Ist es vielleicht schon zu spät?
„Wenn Wahlen wirklich etwas ändern würden, wären sie längst verboten.“
Emma Goldmann, Friedensaktivistin und Anarchistin
(oder irgendein anderer anonymer Demokratieskeptiker)
Die alteingesessenen Parteien reden von einem erschütternden Ergebnis. Ich für meinen Teil bin enttäuscht, denn für meinen Geschmack war diese Erschütterung doch recht überschaubar. Absolut nichts, was ein halbwegs mit klarem Verstand ausgestatteter Politiker nicht hätte im Vorfeld bereits absehen können.
Die aktuellen Reaktionen auf die Wahlergebnisse bestätigen die nur geringe Bebenwirkung letztendlich auch, denn sie zeigen, dass man sich nun lieber mit Schuldzuweisungen und Ausreden zu behelfen versucht, statt denn das Wahlergebnis als wirklichen Weckruf anzusehen. Schuldzuweisungen haben ja auch etwas erleichterndes. Warum selbst etwas an der eigenen Art verändern, wenn ein anderer an der Misere Schuld ist?
Nun mag die Europawahl nicht wirklich ein Indikator für den Wahlausgang der nächsten Urnengänge in Deutschland sein. Ich für meinen Teil hoffe sogar, dass sie das nicht ist. Denn mit diesen Ergebnissen vergeht mir mehr und mehr der Glaube an die Vernunft im Menschen. Wie bekommt man die Wohlstandskrankheit in der westlichen Zivilisation kuriert, bevor sie zur Epidemie wird und letztendlich zum Auslöschen großer Teile der Bevölkerung führen wird?
Warum lese ich die Wahlergebnisse so negativ? Schauen wir sie uns doch einfach mal ein bisschen genauer an.
Pi mal Daumen 81.450.000 Menschen leben in Deutschland. Davon sind 61.900.000 zur Wahl zugelassen.
Zwischenfrage: was ist denn mit dem Rest? Klar, da sind ein paar darunter, die mangels Staatsbürgerschaft oder gesundheitlichem Zustand oder aus anderen Gründen nicht wählen dürfen. Das Gro dieser 19.500.000 von der Wahl ausgeschlossenen scheitert jedoch an der Altersgrenze. Manche Angaben im Internet schreiben 10,6% der Gesamtbevölkerung seien Jugendliche. Das Statistische Bundesamt unterteilt in einzelne Altersgruppen. Wenn ich da die Unter-18-jährigen zusammenaddiere, komme ich sogar auf 13,5% der Bevölkerung. Mal in absoluten Zahlen ausgedrückt: das sind weit über 9.000.000 Menschen, die in der Zukunft leben müssen, die von den jetzt gewählten Menschen erschaffen wird.
Aber bleiben wir einfach mal bei den Wahlberechtigten „über 18“ und „unter Tod“. Mit den bei dieser Wahl erreichten 61,4% ist statistisch betrachtet die Wahlbeteiligung so hoch, wie schon lange nicht mehr. Ich lese das anders herum: 38,6% der Deutschen, deutlicher gesagt 23.890.000 Menschen geht die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft schlichtweg am Arsch vorbei! Das sind so viele Menschen, als wäre Hessen und Nordrhein-Westfalen geschlossen nicht zur Wahl gegangen. Das sind so dermaßen viele Menschen, dass man deren Unwillen eigentlich unbedingt viel, viel mehr in die politische Willensbildung mit einbeziehen müsste. Auch wenn das vielleicht für die Regierenden unbequem wäre. Aber dafür sind es in meinen Augen „Staatsdiener“.
Greifen wir aber halt eben die Wahlergebnisse mal so auf, wie sie in den Zeitungen abgedruckt werden. Orientieren wir uns nur an den 61,4% der Wählenden.
Fangen wir mit dem Schlimmsten an, dem Wunsch nach Nationalismus, Grenzschutz und Rückkehr zu arischer Lebenskultur. 11% der abgegebenen Stimmen konnte die dazu gehörige Partei verbuchen. In Worten: elf Prozent! Okay, das ist weniger, als manch eine Prognose vorhergesagt hat. Aber das sind nichts desto trotz 6.800.000 Menschen! Knapp sieben Millionen Menschen, die durchaus zu Recht von der politischen Entwicklung der vergangenen Jahre herb enttäuscht sind. Aus dieser Enttäuschung jedoch mangels Aufklärung, vielleicht gar mangels brauchbarer Bildung solch vollkommen zerstörerische Schlüsse ziehen. Diese Menschen gehören dringend in ihren Sorgen und Nöten ernstgenommen und mit zukunftstauglichen Lösungen abgeholt und mitgenommen.
Jetzt ist natürlich die Frage, was man denn als „Zukunft“ betrachtet. AKK hat ja nun in der aktuellen Debatte um die eventuelle Zensur dessen, was vor einer Wahl gesagt werden darf und was nicht, schon ganz klar Stellung bezogen: „Zukunft“ geht exakt bis zur nächsten Wahl, in unserem Falle also bis in den Herbst, wenn die Landtage in Brandenburg, Sachsen und Thüringen für weitere fünf Jahre gewählt werden. Zur Erinnerung: in Brandenburg lag bei der Wahl am vergangenen Sonntag die AfD mit 19,9% vor der auf 18% geschrumpften CDU. In Sachsen ist die CDU zwar nur auf 23% abgeschmiert, wurde aber trotzdem von der AfD mit 25,3% überholt. In Thüringen konnte die CDU mit 24,7% das Siegerplätzchen behalten, aber die AfD sitzt ihr mit 22,5% fest im Nacken. Drei Landtagswahlen also in greifbarer Nähe, in denen eigentlich nur noch ein Wunder das Entstehen der ersten blauen Regierungen verhindern könnte.
Da muss die CDU natürlich bereits jetzt den Grundstein legen, um die Bevölkerung für schwarz-blaue Koalitionen vorzubereiten. Und am besten geht das, indem man das schwarze Programm dem braunen, Entschuldigung, blauen anpasst. Einbringen der Idee der Unterdrückung freier Meinungsäußerung ist da schon mal ein guter Schritt in die Richtung. Mal schauen, welche Einschnitte in die demokratischen Grundrechte noch so alles demnächst durch konstantes Wiederkäuen in den Medien salonfähig gemacht werden. Durch die chronischen Grenzüberschreitungen der Blauen ist die Bevölkerung ohnehin schon sehr weit abgestumpft. Da kann die schwarze Hand doch prima in die gleiche Kerbe schlagen.
Mir blühte das Herz auf, als ich vor ein paar Tagen eine eMail von einer über-80-jährigen Bekannten bekam, die mir voller Stolz mitteilte, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht Schwarz gewählt hat, weil sie erkannt hat, dass diese Partei mehr Schaden für die Zukunft anrichtet, als denn Gutes bewirkt. Meine Freude über dieses eine Kreuz mehr an den richtigen Stellen auf dem Wahlzettel währte jedoch nicht lange. Denn sowohl in der Familie als auch von sehr guten Freunden wurde ich über deren Kreuz an der listenoberen Stelle aufgeklärt. „Die CDU macht doch einen ganz ordentlichen Job. Was soll man denn sonst wählen?!“ Ein Satz, bei dem ich nicht so genau weiß, ob ich besser einfach das Gespräch abbreche oder schlichtweg explodiere.
„Rot oder links konnte man früher nicht wählen. In unseren Augen waren das alles Kommunisten“, so stand es auch in der ehrlichen eMail der älteren Dame. Ja, der Kommunismus als ehernes Ziel der Sozialisten schreckt viele ab. Tatsächlich wäre die Reinform des Kommunismus ja wirklich ein wundervolles Gesellschaftsmodell. Nur leider ist der Mensch dazu nicht geschaffen. Da es unter den Gleichen immer ein paar gibt, die gleicher sind als die anderen, wird dieses System immer in Unterdrückung, Ausbeutung und Chaos enden. Der Mensch kann keinen Kommunismus im großen Stil. Das widerstrebt seiner Raffgier.
Die Tage, an denen SPD & Co. in solch eine extreme Richtung ausschlagen wollten, dürften per heute jedoch ohnehin vorbei sein. Ich zitiere hier einmal mehr Nico Semsrott von der PARTEI: „Wenn man sich den SPD-internen Umgang mit dem Vorschlag zu BMW betrachtet, scheint Kevin Kühnert der einzige verbliebene Sozialist in dieser Partei zu sein“. Aber mit Sachpolitik mag man sich bei der SPD ohnehin längst nicht mehr auseinanderzusetzen. Intrigen und Machtspielchen bestimmen den Inhalt der täglichen Soap-Opera. Habe ich da wirklich die Tage in den Nachrichten gelesen, dass ‚der Martin‘ ein Comeback plant? Und das sogar gleich als Königsmörder? Wie lange glaubt er sich dieses Mal in der Partei der Vorstandsmeuchler an der Spitze halten zu können?
Grün ist also nun die neue Hoffnung aller. Wenn denn das Grün von heute noch das Grün aus den 80er Jahren wäre, würde ich diese Euphorie vielleicht teilen. Damals war ich noch zu jung, als dass ich den Wert der Diskussionen um den Umweltschutz hätte absehen können. Heute jedoch bezweifle ich, dass die weichgespülten Vertreter dieser Parteien in der Lage sind, sich einem so großen Thema zu widmen. Für erfolgversprechendes Vorgehen bedürfte es der hochmotivierten Aktivisten von früher. Heute haben wir es eher mit phrasendreschenden Vollblutpolitikern zu tun. Wie schon das eine oder andere Mal erwähnt: ich lasse mich gerne positiv überraschen, wenn es der grüne Einfluss in allen europäischen Parlamenten schaffen sollte, den Zwei-Fronten-Konflikt zu bewältigen. Denn das Ziel einer beschleunigten und effektiven Klimapolitik ist ja nur ein Schauplatz, an dem alle Kräfte gefordert werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekommen die handlungsbereiten Grünen auch noch von den konservativen Lagern und den Kapitalismusvertretern jeden verfügbaren Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich bin kein Grüner, aber ich drücke dennoch den Vertretern dieses gesamten politischen Spektrums fest die Daumen, dass sie auch weiterhin auf die breite Unterstützung der Öffentlichkeit bauen können. Sie werden jede Hilfe gebrauchen können.
Deutschland, Europa, die ganze Welt wünscht sich Erneuerung, sollte man meinen. Und doch ist der Einfluss der konservativen Kräfte so ungebrochen. Ein Blick in die Farbtafel des neu zusammengestellten Europaparlamentes macht das ziemlich deutlich. Gut zwei Drittel der Sitze sind weiterhin fest in der Hand alteingesessener Parteien mit deren ebenso alteingesessenen, teilweise engstirnig-ignoranten Ausrichtungen. Wirkliche Nachrücker haben es nicht in diese Kreise geschafft. Ein humanerer, ein liberalerer Einschlag wäre mir willkommen gewesen. Aber weder gibt es in Deutschland ein entsprechendes Signal, noch scheint das restliche Europa in dieser Richtung Kräfteentwicklungen zu verspüren. Ich setzte daher aktuell durchaus auf die beiden Herren von der PARTEI. Nicht dass sie wirklich etwas in diesem Koloss von Verwaltung bewegen könnten. Nein, sie bringen eine neue Art der Berichterstattung in die politische Landschaft. Eine, mit der sich deutlich mehr Menschen verbinden. Ernste Themen zum drüber Nachdenken in ein bisschen Humor verpackt, hilft beim Verdauen manch einer bitteren Pille. Kaum auszumalen, in was für einer Welt wir leben würden, wenn Politik auf einmal Spaß machen würde?!
Aber ich befürchte, dass die politische Entwicklung nicht in diese Richtung gehen wird. AKK’s aktueller Schlachtruf lautet ja, „wenn 70 Zeitschriften vor der Wahl gegen die Parteien gewettert hätten, wäre das unzulässige Stimmungsmache“. Sehe ich anders. Wenn man denn von Seiten der Politik für einen unabhängigen und unbeeinflussten Journalismus mit offener und freier Berichterstattung einstehen würde und dann vor einer Wahl 70 Zeitschriften negativ über das Handeln einzelner Parteien berichten, läuft nicht bei den Medien was falsch, sondern in der Politik!
Ich hätte meinen Standpunkt zu den alteingesessenen, vor allen Dingen den konservativen Parteien vielleicht geändert, wenn denn die führenden Köpfe der Politik nach dieser Wahl mit einem „Problem erkannt! Lasst uns an einer Lösung arbeiten!“ reagiert hätten. Aber der aktuelle Aufruf zum Ändern der Regeln bis endlich das Ergebnis passt, klingt eher nach Abschauen der von Erdogan vorgemachten Praxis, als denn nach zu Europa passendem Diskurs. Nein, die CDU hat mit ihrer Reaktion einmal mehr deutlich bewiesen, dass man diese Partei einfach nicht mehr guten Gewissens wählen kann.
Auf den Ausgang der Wahlen im Osten Deutschlands kann man höchstwahrscheinlich schon keinen Einfluss mehr nehmen. Aber bis zum nächsten Wahljahr 2021 lässt sich noch einiges bewegen. Vor allem sollte in der Öffentlichkeit die Frage behandelt werden, ob man sich denn eine neue Kanzlerin mit dieser Grundgesinnung wünscht. Wer weiß, ob man diese Frage nach der nächsten Wahl sonst noch stellen darf.
Grüße von einem gerade leicht politikverdrossenen
Clark