Hamsterrad versus Lotterleben
„Ich bin ein leidenschaftlicher Reisender. Seit meiner Kindheit haben Reisen mir genauso viel beigebracht wie meine Schulbildung. Um die Kulturen anderer Länder zu schätzen, muss man dorthin gehen und die Menschen und ihre Kultur hautnah erleben.“
David Rockefeller Sr., US-amerikanischer Bankier
Langes, zu Rastazöpfen geflochtenes, aber eher verfilzt aussehendes Haar. Eingewickelt in auffallende bunte, lose wallende Tücher. Allerlei Schmuckartikel um den Hals und die Handgelenke. Ein paar Flipflops an den Füßen. Unübersehbar eine junge Frau, die einen etwas alternativen Lebensweg eingeschlagen hat. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich spät am Abend vom Bahnhof kommend durch die Gernsheimer Innenstadt nach Hause lief und die Frau mit einer Erntehelferin in einer mir fremden Sprache plaudernd und lachend am Straßenrand stehen sah. Ach, welch sorgenfreies Leben manch ein Mensch doch führt, dachte ich so bei mir. Und vergaß die Frau wieder, während sich mein Hirn zurück auf die am folgenden Tag zu stemmenden Aufgaben ausrichtete.
Das Fertigstellen meines Küchenbodens war eine der zahlreichen Aufgaben des neuen Tages. Nach einigen Stunden am Schreibtisch und einer ausgedehnten Tour zum Baumarkt konnte ich am späteren Nachmittag endlich an meine Baustelle gehen. Leise vor mich hin fluchend, weil ich mich nur von einer Verpflichtung zur nächsten vorwärts kämpfe und dazwischen kaum zur Ruhe komme. Selbst wenn ich mich einmal mit Dingen beschäftige, die nichts mit Arbeiten zu tun haben, tue ich das eher mit einem schlechten Gewissen, denn eigentlich gäbe es noch zahlreiche unerledigte To-Do’s auf der wohl niemals zu schaffenden Liste. Aber wann habe ich eigentlich das letzte Mal wirklich „nichts“ gemacht?
Fliesen schneiden verursacht Staub. Also eine Tätigkeit, für die man besser das Fenster öffnet. Die Fenster meiner Wohnung sind zum Schöfferplatz ausgerichtet. Am Rande dieses Platzes direkt vor meinen Fenstern steht Nepomuk. Der steinerne Wächter über die Brücken und Beichte wurde im vergangenen Jahr umversetzt und dabei ein bisschen aufgehübscht und mit einem kleinen Park umgeben. Zu selbigem auch zwei größere halbrunde Sitzbänke gehören. Als ich mein Fenster öffne, entdecke ich zwei Menschen auf einer der Bänke liegend, umgeben von einer Menge Taschen und Tüten. Eine der Personen kann ich durch die bunten Tücher sofort identifizieren: die Wandersfrau vom Vorabend. Der zottelige Jungspund daneben wird dann wohl ihr Freund sein, mutmaße ich.
Als ich kurz darauf auf dem Boden meiner Küche herum krabbele und das aus der nächsten Fliese auszuschneidende Muster ausmetere, kreisen meine Gedanken um die beiden Vagabunden vor meinem Fenster. Ist „Vagabund“ eigentlich ein heutzutage noch politisch korrekter Begriff? Die Bezeichnung ist im Allgemeinen eher negativ belegt. Aber das liegt wohl an unserer sesshaften Kultur, in der sehr viel Wert auf den Schein gelegt wird. Komfort ist nicht das, was man selbst fühlt, sondern das, was man dem Nachbarn vorzeigen kann.
Die Trennscheibe meines Fliesenschneiders frisst sich lautstark durch das Feinsteinzeug. Kleine Splitter prasseln gegen meine Schutzbrille. Ich bekomme es nur am Rande mit, denn mein Hirn befindet sich weit weg. Die Finger arbeiten wie ferngesteuert. Was Anbetracht meiner noch lange nicht wieder vollständig hergestellten Funktionsfähigkeit der rechten Hand fast schon ein bisschen gewagt ist.
Das mich bei den Grübeleien wohl am meisten bewegende Gefühl lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Neid! Ja, ich war neidisch auf diese beiden Menschen und die Ungezwungenheit, mit der sie das Leben genießen können. Natürlich ratterte der Vernunftmensch in mir die lange Litanei der unbestreitbaren Vorteile eines genormten, „normalen“ Lebens herunter. Ein Dach über dem Kopf. Frische Lebensmittel im Kühlschrank plus Vorräte im Keller. Allerlei Versicherungen gegen die Unwägbarkeiten des Lebens; vor allen Dingen in Form der Krankheits- und Altersabsicherung. Und so weiter und so fort. Ja, ich habe keinerlei Argumente, mit denen ich den enorm hohen Wert dieses Sicherungsnetzes klein reden könnte. Und doch bleibt da etwas. Ein Funke, der eben nicht nach Sicherheit, sondern nach Erlebnis schreit.
Midlife-Crisis? Mag vielleicht sein. Aber die Suche nach einem Zweck des eigenen Lebens ist ja eigentlich nichts, womit man sich nur ein einziges Mal kurz in der Lebensmitte beschäftigen sollte. Das Leben eines jeden Menschen braucht Inhalt, braucht einen Nutzen, braucht ein Ziel.
Für die meisten Menschen klaffen diese Punkte auseinander. Der Inhalt des Lebens ist nicht gleich dem Ziel. Was regelmäßig zur Folge hat, dass der Nutzen fehlt. Der Nutzen für die Allgemeinheit der Menschen und damit letztendlich auch der Nutzen für die Person selbst. Die konstant anwachsende Anzahl von Menschen mit mehr oder minder schweren Depressionen dokumentiert diese Entwicklung mit einer erschreckenden Deutlichkeit.
Womit man bei den Gedankengängen wieder bei der Kultur landet. In unserer industrialisierten westlichen Welt wird der ‚korrekte‘ Inhalt eines Lebenswandels von der Gesellschaftsnorm diktiert: die Arbeit. Damit verbringt man den allergrößten Teil seines Lebensweges. In den Jahren davor hat man gefälligst alles zu tun, um der Arbeit möglichst erfolgreich nachgehen zu können. Wobei natürlich auch hier schon von der Gesellschaft vorgegeben wird, wie dieser ‚Erfolg‘ auszusehen hat: mein Auto, mein Haus, meine Yacht… Und das letzte Stück des Lebensweges soll man sich auf den Früchten des Schaffens ausruhen. Hirn abschalten, Ziel erreicht. Wirklich?
Erst wenn dieser Zeitpunkt des ‚Ruhestandes‘ in eine greifbare Nähe rückt, kommt in manch einem Menschen tatsächlich das Nachdenken darüber auf, ob denn das Rentnerbänkchen vor dem bezahlten Haus mit dem englischen Rasen und der hochglanzpolierten Limousine in der Garage wirklich das Ziel ist, auf das man sein ganzes Leben ausgerichtet hat. Enorm viele Menschen kommen bei dieser Fragestellung ziemlich deutlich zu der Antwort: Nein! Und legen damit den Grundstein für die eben genannte Midlife-Crisis.
Wer wird glücklicher auf sein Leben zurück schauen? Der Opi, der voller Stolz auf die gerahmte Urkunde für 35 treue Dienstjahre in einem Unternehmen deuten kann? Oder die Omi, die beim Blick auf die ergrauten Haare im Spiegel an die Rastazöpfe und den Sonnenschein damals auf der Bank neben der Nepomuk-Statue zurück denkt?
Ich bin ziemlich sicher, dass beide mit dem Gedanken hadern werden „wäre ich doch an dem einen oder anderen Punkt meines Lebens anders abgebogen“. Man hält bekanntlich meistens genau das für das Bessere, was man gerade nicht hat. Aber dennoch glaube ich auch, dass von den beiden die Omi auf ein glücklicheres, ein erfüllteres Leben zurück schauen wird. Ein entbehrungsreicheres Leben, das bestimmt. Aber ein intensiveres. Einen nicht unternommenen Spaziergang in der Sonne wird man vermissen. Einen Tag mehr oder weniger im Büro jedoch?
Mein Küchenboden wurde irgendwann fertig. Gar nicht mal schlecht geworden. Für einen Buchhalter. Ein abgeschlossenes Projekt ist durchaus auch etwas, auf dass man stolz zurückblicken kann. Nehmen wir uns mal der nächsten Baustelle an. Vorher mache ich das Fenster wieder zu. Die Bank am Denkmal ist leer. Die Beiden sind weitergezogen. Wo werden sie wohl die nächste Nacht verbringen? Was werden sie morgen zu sehen bekommen? Meine Gedanken werden das junge Pärchen noch ein Stück begleiten.
Einen sehnsuchtsvollen Gruß
Euer Clark