Frumpy Shades of Black
„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu einer Nation werden mit Leuten, die alle vor dem Fernseher sitzen und genau wissen, wer wie Fußball spielen muss, aber selber nicht mehr in der Lage sind, einen Ball vor sich her zu schieben.“
Dr. Angela Dorothea Merkel, deutsche Politikerin (CDU)
Ein einsames hupendes Auto mit zwei rot-weiß-roten Flaggen rollte vorhin an meinem Bürofenster vorbei. An Karl Berger musste ich da denken, einen Cartoonisten, dessen bissige Kritik am österreichischen Bundeskanzler mich kürzlich zu einem Like verleitete. Zeit für Feierabend. Beim Einkauf vorhin habe ich mir an der Supermarktkasse aus den Fußballfan-Angeboten eine Tüte Chips und ein Sixpack Bier mitgenommen. Damit ausgestattet setze ich mich gemütlich vor den Bildschirm und starte die Nachrichten. Ach, die CDU hat endlich ihr Wahlprogramm veröffentlicht. Statt auf die ganzen Berichterstattungen in den News einzugehen wechsele ich auf „ein-guter-plan-fuer-deutschland.de“ und lese mich in das Original ein. Vollkommen egal, zu welcher Koalitions-Kombination es im September auch kommen mag, große Teile der kommenden Vier-Jahres-Ausrichtung werden wohl hieraus entnommen werden, befürchte ich. Also schmökern wir mal…
Wenigstens in einem Punkt entspricht die ausgedrückte Zielsetzung des Wahlprogramms meinen Ansprüchen an eine bessere Zukunft. Zumindest auf dem Papier stehen die Unionsparteien für „Mehr Europa!“
Insgesamt strotzt das Pamphlet jedoch nur so vor kampfeslüsternen Auf-die-Brust klopfen. Es gibt für fast alle Probleme im Zweifel eine gewaltsame Lösung.
„Klimaschutz zur Bewahrung der Schöpfung“ bekommt zu Beginn des 140-Seiten-Dokument kaum ein Blatt ab. Und passend im Stile der gesamten Einleitung des Wahlprogramms auch gleich mit dem erhobenen Zeigefinger „Wo der Klimawandel die Sicherheit gefährdet, muss die internationale Gemeinschaft präventiv handeln“. Fügt sich perfekt ein in das Vorhaben, die Bundeswehr schneller modernisiert haben zu wollen, als denn die Pariser Klimaziele erreicht sein sollen.
Sobald es dann an den European Green Deal geht, werden die vorher bei den anderen Themen so konkreten Aussagen auf einmal viel schwammiger. „Alle Strategien des Green Deals müssen mit einer Folgenabschätzung verbunden werden.“ Wunderbare Hintertür für „zu gegebener Zeit finden wir schon Gründe, mit denen sich sämtliche Maßnahmen kippen lassen“. Auf jeden Fall auch ein sehr kurz abgehandeltes Thema.
Das Wort „Klimaschutz“ taucht zwar noch einige Male öfter auf, aber irgendwie immer gefühlt als Alibi für irgendetwas anderes. Es ist nicht das zentrale Ziel, sondern ein Nebeneffekt, der gerne mitgenommen wird, wenn machbar. Und wenn nicht, dann auch okay.
Dafür aber ununterbrochen weiterhin Säbelrasseln. Schaffung eines „Nationalen Sicherheitsrates“, Ausbau FRONTEX zur Grenzpolizei, EUROPOL als FBI-Nachbau und so weiter. Das Wort „Freiheit“ kommt hier und da im Wahlprogramm vor. Aber der klar ablesbare Konsens lautet: „wenn es um (vermeintliche) Sicherheit geht, muss die Freiheit zurückstecken“.
Weiter geht es zur Entbürokratisierung. Auf die Frage, unter wessen Regentschaft diese Bürokratiemonster denn überhaupt erst entstanden sind, geht das Wahlprogramm nicht ein. Und das, was hier als „Erleichterung“ angepriesen wird, ist auch eher eine Mogelpackung. Erhöhung der Schwellenwerte für die Abgabe von verschiedenen Steuern? Bedeutet doch nur, dass man früher in einem Formular erklären musste, wie viel Steuern man zu zahlen hat. Und nun muss man eben in einem neuen Formular erklären, warum man diese Steuern noch nicht zu zahlen hat. Was soll dieses ununterbrochene Durcheinander?! Es fehlt einfach eine politische Partei, die mal mit dem Versprechen antritt „wir ändern vier Jahre lang gar nichts“. Aber nein, es werden wieder so Mini-Anpassungen als große Innovation verkauft.
Oder Maßnahmen, die insgesamt fragwürdig sind. Ein bürokratiefreies Jahr nach Existenzgründung? Ich sehe schon die Steuervermeidungs-Spezialisten nach Ansätzen suchen, wie man alle 360 Tage ein neues Gewerbe gründen kann. Was versteht ein deutscher Bürokrat denn unter „Erleichterung“? Auf jeden Fall nicht „weniger Papierkram“.
Das Lesen des ganzen Blablas macht müde. Die Arbeitswelt ist im Wandel. Tatsächlich hat man das bei der Union auch schon gemerkt. Und schiebt die Ursache natürlich gleich der bösen Digitalisierung in die Schuhe. Selbiger man sich aber mit geballter Kompetenz stellen möchte. Neue Arbeitsformen wird man argwöhnisch beobachten und im Zweifel gesetzgeberisch engreifen. Und mal wieder eine Offensive für Qualifizierungsmaßnahmen übers Jobcenter. Absolut alter Wein in neuen Schläuchen.
Deutschland wird ein klimaneutrales Industrieland bis 2045. Warum musste ich beim Lesen der Überschrift an die Elbphilharmonie und den Berliner Flughafen denken?
Emissionshandel ausbauen, Nachhaltigkeit wettbewerbsfähig machen, Abschaffen des EEG-Rohrkrepierers. Klimaschutz durch neue Technologien. Hm. Hatte ich das nicht in einem anderen Wahlprogramm auch schon mal gelesen? Der Markt regelt das schon, oder so.
1,5 Milliarden für die deutschen Wälder. Als letztes Jahr im Zuge der Corona-Hilfsmaßnahmen ein 700-Millionen Paket für die Forstwirtschaft bereit gestellt wurde, haben sich ausreichend Fachleute gemeldet und vorgerechnet, dass der Betrag um den Faktor 10 zu klein ist, um wirklich etwas zu retten. Nun wird die Summe wenigstens verdoppelt. Allerdings „bereitgestellt“. Wie viel davon ankommt… nun, da sprechen die Corona-Hilfsmaßnahmen ja ihre eigenen Bände. Wenigstens ist für den Wald das BMEL zuständig und nicht das Verkehrsministerium.
Gleich unter dem Thema folgt das nächste Trauerspiel. „Automobilstandort Deutschland sichern“. Es ist zum Heulen, wie viel Lobbyarbeit in so eine parteiliche Grundausrichtung einfließt. Wieder wird das Schlagwort „Modernisierungsjahrzehnt“ verwendet. Und wieder folgen darauf nur leere Phrasen, wie „…dazu einen Fahrplan vorlegen“. Wie wäre es mal mit MACHEN!?
Als Dieselfahrer profitiere ich von der Aussage, dass Dieselfahrverbote nicht in Frage kommen. (Steht im gleichen Satz, wie die Ablehnung des Tempolimits). Aber insgesamt dreht sich der ganze Text nur um den Umstieg des bestehenden Verkehrsaufkommens auf andere Antriebstechniken. Keine Ideen zum Verringern der Verkehrsbelastung.
Am Thema Landwirtschaft hat man sich textlich echt ausgetobt. Und egal ob Umstieg auf eine ökologischere Landwirtschaft, Stärkung bei Umgestaltungsvorhaben, gesündere Ernährung oder Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung… das klingt alles richtig gut. Bleibt nur die Frage, warum von alledem in den vergangenen 16 Jahren so verdammt wenig wenigstens schon mal rudimentär in die ersten Bahnen gelenkt wurde? Und daraus resultierend der fade Beigeschmack, dass nach der Wahl all die eigentlich guten Vorsätze wieder genauso in einer dunklen Schublade verschwinden, wie in der Vergangenheit.
Themenwechsel zur Rente. Erst Selbstbeweihräucherung in Punkto Grundrente, dann Auflistung von Selbstverständlichkeiten. Renteneintritt ab 2030 (interessant, wie viele Ziele auf gerade dieses eine Jahr gebündelt werden) dann 67 Jahre. Immerhin soll dafür gesorgt werden, dass die Menschen alt genug werden, das Rentenalter zu erreichen. Und danach? 😉
Zumindest kommt das Gesundheitswesen recht gut weg. Nur auch hier wieder… Die Erkenntnisse sind nicht neu. Und was ist in den vergangenen 18 Corona-Monaten für die Pflegekräfte und das medizinische Personal umgesetzt worden? Sind da 500 Millionen für eine Innovationsoffensive der richtige Ansatz, damit zukünftig irgendwann ein Roboter auf der Krankenstation Dienst schiebt? Große Vorhaben lassen auf große Taten hoffen.
Der Absatz, in dem von angeblicher Kommerzialisierung der Sterbehilfe die Rede ist, wird mit dem Wort „Selbstbestimmung“ überschrieben. Das nenne ich mal schwarzen Humor.
Brokkoli kann es weiterhin nicht mit Cannabis aufnehmen. Auch hier nichts Neues.
Das folgende Kapitel rund um die Finanzierung der Zukunft sollte mich eigentlich berufsbedingt interessieren. Aber tatsächlich ist dem nicht so. Denn die Slogan „Leistung muss sich lohnen“ sind genauso alt, wie überholt. In einer immer weiter digitalisierten und automatisierten Gesellschaft gibt es schlichtweg nicht mehr genug bezahlte Jobs, um an alten Vergütungsmustern festzuhalten. Und dieses erzkonservative Denkmuster, sich einem Problem erst anzunehmen, wenn es unausweichlich vorhanden ist, statt einfach mal vorausschauend ein paar Weichen zu stellen, bringt mich schlicht zur Weißglut.
Und nein, eine vernünftig gestaltete Vermögensteuer ist KEINE Wohlstandsbremse!
Auf geht es zur Familie. Genauer gesagt, Nachwuchssicherung. Merkwürdigerweise funktioniert an dieser Stelle der Blick in die Zukunft. Ohne Konsumenten und Steuerzahler von morgen wackelt das Gesamtkonzept.
Zwischendurch mal wieder ein Satz, der mir gefällt, wenn er denn in wirklich brauchbarer Form umgesetzt werden würde: „Wir setzen uns für eine Stärkung der politischen Bildung und Wertekunde ein: Nur wer weiß, wie Demokratie funktioniert, kann später auch demokratisch handeln.“ Und das von einer Partei, deren Kanzlerkandidat ein Interview mit Rezo ablehnt. Nunja.
Bildungsgleichheit wird auch in den folgenden Sätzen wieder abgenudelt. Die Herkunft von Menschen darf nicht über ihre Zukunft entscheiden. Tut sie aber doch. Tat sie bisher schon. Und wird sie auch weiterhin. Da helfen auch die Ansätze zur „digitalen Bildung“ nicht.
Beim „neuen Mut zur Innovation“ habe ich zugegebenermaßen angefangen etwas oberflächlicher zu scrollen. Das ist mir zu Raumstation Bavaria. „Weiter so“ und „alles neu“ sind zwei unvereinbare Gegensätze. Ausnahmen werden da nur gemacht, wenn es ums große Geld geht. Aber das ist nichts, worauf der kleine Wähler im September irgendeinen Einfluss hat. Es sei denn, er ist so vernünftig und setzt sein Kreuzchen woanders.
Im achten Kapitel geht es dann nochmal ausführlich um das Modernisierungsjahrzehnt. Wer hat sich denn nur diesen Wahlkampfbegriff ausgedacht? Alles soll moderner werden. Aber der Föderalismus bleibt erhalten. Und damit sicherlich auch eins der grundlegendsten Bremsklötze der Weiterentwicklung, das Schulwesen.
Von der neuen gesetzgeberischen Zurückhalten mag man halten, was man will. Im Laufe der letzten Legislaturperiode, insbesondere jetzt zum Ende hin, wurden zahllose Gesetze durchgedrückt. Zu wessen Gunsten?
Zum Ende hin geht es dann nochmal ans gleiche Thema, wie zum Beginn: Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit. Mehr Polizei, mehr Kontrolle, mehr Überwachung. Sexuellen Kindesmissbrauch „mit aller Schärfe bekämpfen“ – außer er geht von der Kirche aus. Den Nachsatz hätte ich im Kleingedruckten erwartet.
Wenigstens kommt in dem ganzen Aufrüstungskatalog der angedachten Schutzmaßnahmen auch der eine oder andere positive Vorschlag durch. So sollen Hilfsorganisationen und Feuerwehren besser ausgestattet werden. Wieder vermisse ich den Hinweis auf eine Einflussnahme auf das gesellschaftliche Ansehen. Das leere Gerede vom Schaffen von Anreizen mal außer Acht gelassen. Aber wenigstens mehr finanzielle Mittel für die überwiegend ehrenamtlich erbrachten Leistungen sind ja auch schon mal ein Anfang.
Die Justiz soll auch modernisiert werden. Hätte ich im Modernisierungsjahrzehnt gar nicht mit gerechnet.
Das Schlusskapitel haben wohl die Bayern beigesteuert. „Aus Liebe zu unserer Heimat“. Wohnraum wird bezahlbar. Gebaut wird altersgerecht. Das Land wird vitalisiert. Der Osten wird eingegliedert.
In Zeile 4724 wird es dann nochmal christlich. „Schöpfung bewahren“. Mal schauen, ob das nächste Klimaschutzgesetz durch die juristische Prüfung kommt.
Und als hätte mir beim Tippen der Zeilen ein paar Absätze zuvor jemand über die Schulter geschaut, wird doch tatsächlich auch nochmal die Förderung des Ehrenamtes explizit aufgegriffen.
Beim anschließenden Hinweis auf die Religion als wertvollen Teil unserer Gesellschaft zu begreifen, bin ich jedoch etwas außen vor. Der Text verweist deutlich darauf, dass das Grundgesetz die beiden Blöcke Religion und Staat klar voneinander trennt. Dann sollte man auch in einem Wahlprogramm nicht versuchen, doch wieder einen Zusammenhang herbeizuformulieren.
Den letzten Punkt des fast 5000 Zeilen umfassenden Werkes stellt die „Engagierte Sportförderung“ dar. Das Lesen dieses Begriffs erinnert mich an die zwischenzeitlich drei leeren Bierflaschen neben meinem Bildschirm. In der Chipstüte sind noch ein paar Reste verblieben. Dafür steht direkt daneben inzwischen ein geleerter Becher Schoko-Sahnepudding. Ich habe ganz offensichtlich das volle Klischee eines Home-EM-Fan-Fußballers erfüllt, scheint mir. Solche Abende sollte ich nicht zur Regel werden lassen.
Aber so oft liest man sich ja auch kein Wahlprogramm durch. Ordnungsgemäß ist selbstverständlich das abschließend letzte Wort des gesamten Werkes… na, was wohl? „Deutschland“, was sonst. Dieses Wahlprogramm haben Vollprofis aufgesetzt. Und tatsächlich damit gerechnet, dass es Irre gibt, die sich den Text bis zum Ende durchlesen. Ein paar von diesen Profis hätten die Grünen besser auch mal engagiert, um sich und uns allen das Fettnapf-Wetthüpfen der letzten Monate zu ersparen.
Es wird eine interessante Bundestagswahl in diesem September, das steht fest. Ob sich nach der Wahl nennenswert was ändern wird, glaube ich jedoch kaum. Dazu sind die sich gegenseitig aushebelnden Lager einfach allesamt zu stark. Und auf der Suche nach einem brauchbaren Kompromiss wird dann erfahrungsgemäß überall weiterhin nur an der Oberfläche gekratzt, statt wirklich etwas zu verändern. Gerade die Herausgeber meiner Abendlektüre hatten 16 Jahre Zeit, sich um die von ihnen selbst aufgeschriebenen Punkte zu kümmern. Wahrlich fraglich, dass sie das nun in den kommenden vier Jahren tun werden.
Über 50%, ja fast 60% der Wahlberechtigten in diesem Jahr sind im Renteneintrittsalter oder schon lange drüber. Überwiegend Menschen, die keine Änderungen mehr erleben, sondern das Altbekannte um jeden Preis wahren wollen. Das Kernklientel der Unionsparteien. Leider ein Fakt, der die Hoffnung auf einen richtungsweisenden Wahlausgang schon im Vorfeld eher zunichtemacht.
Aber man soll die Hoffnung ja niemals aufgeben. Mag vielleicht eine Informationsblase sein, aber ich persönlich erlebe derzeit eine mehr zum politischen Interesse erwachende junge Generation. Menschen, die sich um ihre Zukunft Gedanken machen. Und definitiv etwas anderes wollen, als auf diesen 140 Seiten ausformuliert wurde.
Weiter so oder wirklich mal was Neues wagen? Lässt sich das Wahlvolk einmal mehr von solchem Blendwerk beeinflussen? Oder kommt es endlich zu einer Bewusstseinsänderung? Am 26.09.2021 wissen wir es genauer.
Ganz klar lila wählende Grüße
Euer Clark