Kann man ja eh nichts machen
„Veränderung ist das Gesetz des Lebens. Und wer nur auf die Vergangenheit oder die Gegenwart schaut, verpasst die Zukunft.“
John Fitzgerald Kennedy, vorzeitig seiner Möglichkeiten beraubter US-amerikanischer Präsident zur Zeit des Berliner Mauerbaus
Nach einem langen Tag im Büro stehe ich um neun Uhr abends am Frankfurter Bahnhof und stelle fest, dass mein Zug ausfällt. Wieder einmal. Eigentlich schon der Normalzustand. Der nächste um viertel nach zehn fährt jedoch. Wahrscheinlich zumindest. Genau sagen kann das bei der Bahn keiner mehr. Also muss ich mich nun eine Stunde lang irgendwo zwischen Bahnhofstrubel und Uringestank herumdrücken. Drei „hasde ma’n Euro“-Anfragen habe ich bereits abgewehrt. Komme dabei ins Gespräch mit einem anderen Fahrgast, der sich deutlich gelassener mit dem Ausfall der Bahn abfindet. Ich habe es bereut.
Wenn der Mann noch einmal „kann man nichts machen“ gesagt hätte, wäre ich laut geworden. Ich kann es echt nicht mehr hören. An allen Ecken und Enden geht unser Wohlstand zum Teufel, aber „man kann ja nichts machen“. Außer vielleicht die Ausländer dafür verantwortlich machen. Oder die Juden. Ganz schlimm sind mit Sicherheit die ausländischen Juden, die sich ja verschworen haben, um uns in den Untergang zu treiben.
Wie kann es denn sein, dass an diesen Schwachsinn geglaubt wird, statt das Kern-Übel endlich mal beim Namen zu nennen: die allgegenwärtige Lethargie. „Kann man halt nichts machen“. Mir kocht die Galle über, wenn ich den Satz höre. „Doch, man KANN etwas ändern, aber man WILL es nicht tun“ würde ich am liebsten schreien.
Wann ist den Menschen die Fähigkeit abhandengekommen, in Konsequenzen zu denken? Sollte an den politischen Forderungen mancher Lager vielleicht doch etwas dran sein, dass es an der Zeit ist, den Sozialstaat drastisch zusammenzukürzen, um den Virus der Wohlstandskrankheit auszutreiben? Hat die Kombination aus wachsender Sozialfürsorge und Einsparung bei Bildung und öffentlicher Infrastruktur vielleicht tatsächlich im Laufe der Zeit eine Generation von Menschen hervorgebracht, die zwar haufenweise Ansprüche zu stellen vermag, aber nichts mehr zu leisten in der Lage ist?
Ich finde es erschreckend, wenn ich mich beim Grübeln über solche Gedanken erwische. Allerdings würde das ja auch dem immer weiter ausufernden Wunsch der Gesellschaft nach einer harten Hand entsprechen. Demokratie ist anstrengend. Man muss nachdenken, man muss abwägen. Vor allem muss man sich über die Konsequenzen des eigenen Handelns bewusstwerden und mit den Resultaten getroffener Entscheidungen leben.
„Kann man nichts machen“. Pah!
Auf dem Weg zum Bahnhof zuhause in Gernsheim durfte ich eine Gruppe Mädchen (ja, weiblich!) beobachten, die ihre Red-Bull-Dosen auf ex leerten, auf den Bürgersteig stellten und drauf gesprungen sind, um zu schauen, wessen Dose platter zerdrückt worden war. Anschließend haben sie das Blech einfach in die Büsche gekickt. Fünf Dosen entsprechen 1,25 € Pfand, die da einfach mal weggeschmissen wurden. Am gleichen Tag laufe ich nun in Frankfurt vom Büro zum Bahnhof durch tiefstes Elend. Haufenweise verwahrloste Obdachlose, die sich um die Mülleimer scharen, um in dem Dreck wenigstens noch eine einzelne leere Dose zu finden.
Wertschätzung ist verloren gegangen. Das dachte ich mir beispielsweise auch in den vergangenen Tagen beim Austragen von Flyern. Es ist interessant, wie sehr manch eine Grundstücksgestaltung und auch der Fuhrpark vor der Haustür auf die Gesinnung der Hausbewohner schließen lässt. Was mir beispielsweise bei meinen zig Kilometer Wanderung nahezu überhaupt nicht mehr begegnet, sind Nutzgärten. Haufenweise auf Perfektionismus getrimmter Rollrasen ohne einen einzigen braunen Fleck. Von dem hier eingesetzten Wasser könnte man drei Haushalte versorgen. Direkt daneben dann alle Freifläche zwischen den massig (selbstverständlich in neutralem Grau) gepflasterten Bereichen dick mit grauem Kies abgedeckt. Bloß nichts Grünes aufkommen lassen.
Möhren, Salat oder gar Kartoffeln mal selbst anbauen? Gott bewahre, lieber drüber beklagen, wenn die Preise für solche Grundnahrungsmittel im Supermarkt in den Himmel steigen. Ach ja, kann man ja nichts machen.
Einkaufen beim regionalen Landwirt oder den Wein mal vom Winzer im Nachbarort nehmen? Nein, ist ja viel zu teuer. Lieber die Händler unterstützen, die es fertigbringen, Getränke von der anderen Seite des Globus für Pfennigbeträge in die heimischen Discounter zu bringen. Dass der Bauer und der Winzer dabei irgendwann auf der Strecke bleiben… kann man ja nichts machen. Der Sozialstaat wird sie schon auffangen. Außerdem sind Bauern und Winzer ja Gewerbetreibende und damit von Amts wegen Großkapitalisten mit schier unendlichem Vermögen. Ach, der eine oder andere Betrieb darunter beschäftigte auch Angestellte, die jetzt ihren Job verloren haben? Tja, kann man nichts machen.
Ich könnte die Litanei hier noch stundenlang weitertreiben. Aber diejenigen, die bis hierhin gelesen haben, wissen längst, worauf ich hinauswill. Und diejenigen, die das Problem gar nicht erst sehen wollen, sind mit so etwas profanem, wie reinen Fakten ohnehin nicht zu beeindrucken.
Wenn ich mal wieder mit dem Auto im Stau stehe, weil ich über eine der renovierungsbedürftigen Brücken muss, die aus einer Kombination von Bürokratismus und Arbeitskräftemangel zu einer jahrlangen Dauerbaustelle ausarten, bin ich genauso am Kopfschütteln, wie wenn ich von einer Kindertagesstätte oder Schule einen Spendenaufruf erhalte. Sparen, bis nichts mehr geht und dann das Problem demjenigen auf die Schultern packen, der gerade die Funktionsfähigkeit benötigt. So geht also Solidargemeinschaft? Aber da kann man ja nichts machen.
Das gleiche gilt für Krankenhäuser und mein zugegeben ziemlich verhasstes Lieblingsthema, die Deutsche Bahn. Man nehme eine jahrzehntelange Kaskade von Managementfehlentscheidungen, verbrenne ganz viel Geld für Blödsinn in Zeiten, in denen man es noch hatte. Und packe dann den ganzen maroden Dreck der Generation auf den Tisch, die zwangsläufig keine andere Chance hat, als sich damit beschäftigen zu müssen.
Kann man nichts machen. Diese Sprüche kommen immer nur von den Menschen, die sich in einem Wohlstand auf Pump gesuhlt haben. Dass in den Nachkriegsjahren zuerst einmal bei Wahlen für das angenehme Leben gestimmt wurde und die Gedanken an die Zukunft weit weg erschienen, mag nachvollziehbar sein. Dass dann eine Generation hinterher kam, die aus Gewohnheit heraus noch einmal den gleichen Kurs unterstützte, weil „die Alten“ sind ja damit gut gefahren, mag auch noch verständlich sein. Aber ab den 80ern, spätestens den 90ern war absehbar, dass man hier auf einem völligen Holzweg unterwegs ist. Dass es seit den 00ern kontinuierlich bergab geht, haben tausende Geschichtsbeobachter und Fachleute genauso präzise vorhergesagt, wie wir inzwischen wissen, dass es eingetreten ist. Aber mit dem flappsigen Faulheits-Spruch wurde seither jeder Kurswechsel im Keim erstickt. Kann man ja nichts machen.
Ich bringe eventuell mit viel Selbstdisziplin vielleicht noch ein bisschen Akzeptanz zusammen, wenn sich die Menschen, die diesen Weg ins Chaos seinerzeit aktiv gewählt haben, jetzt zurückziehen und wenn sie schon nicht selbst mithelfen, dann wenigstens denen, die etwas tun wollen nicht auch noch im Weg stehen. Aber alle Veränderung zu blockieren und die eigene Ignoranz mit einem dummen Spruch zu entschuldigen, sorgt bei mir immer mehr für Puls. Kann man nichts machen. Doch! Man kann! Und man muss!
Es ist möglich, eine funktionierende Infrastruktur des öffentlichen Personenverkehrs zu erschaffen. Es ist möglich, die Folgen der Klimakatastrophe einzudämmen und somit den nachfolgenden Generationen wenigstens noch ein bisschen bewohnbaren Planeten übrig zu lassen. Es ist möglich, mit den Ressourcen dieses Globus die gesamte Menschheit zu ernähren. Ja, ich lehne mich sogar soweit aus dem Fenster zu behaupten, dass es eventuell denkbar sein könnte, eine Art weltweiten Frieden von etwas längerer Dauer zu erschaffen, auch wenn das unübersehbar so rein gar nicht in der Natur des Menschen zu stecken scheint. Vielleicht kommt es nur auf den Versuch an. Doch zu einem Versuch wird es niemals kommen, solange man sich hinter einem Spruch versteckt. Kann man ja nichts machen. Blödsinn!
Durch wiederholten Zugausfall heute etwas grummelige Grüße
Euer Clark