Ich glaub, ich steh im Wald!
„Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.“
Charles Darwin, Naturforscher
„Den Gernsheimer Stadtwald, wie wir ihn von früher kannten, wird es nie mehr geben.“ Rumps. Ein fast schon nur nebenbei gesagter Satz des referierenden Fachmanns der Forstwirtschaftsbehörde. Ein Satz jedoch, dessen Gewicht man erst nach und nach zu überblicken beginnt. Sofern man gewillt ist, sich damit auseinanderzusetzen.
Allerdings ist der Wald am Feldrand jenseits der Stadtgrenze genauso zu einer Selbstverständlichkeit geworden, wie der SUV vor der Haustür und die Klimaanlage im Haus, mit der sich die heißen Tage erträglich gestalten lassen. Nichts, worüber man intensiver nachzudenken bräuchte. Denkt man.
Nun ist meine Meinung über den Umgang des Magistrates mit Bäumen und Grünanlagen in meiner Heimatstadt Gernsheim nicht unbedingt die beste. Zu viele gestandene Bäume im Stadtgebiet wurden im Laufe der letzten Jahre unter dem fadenscheinigen Deckmantel der Verkehrssicherungspflicht gefällt, zu viel eingewachsenes Buschwerk musste modernen Minipflänzchen weichen, zu viele Grünflächen wurden durch Pflastersteine, Kies und Rindenmulch ersetzt.
Aber langsam scheint sich dann doch endlich ein gewisses Umdenken im Stadtparlament breit zu machen. Für die aktuell und zukünftig anstehenden Gestaltungsmaßnahmen im Stadtgebiet erhält der grüne Daumen einen deutlich größeren Mitwirkungsbereich. Ob ich denn alt genug werde, um aus diesen Neuanpflanzungen noch den Zustand des Eingewachsenen, des wirklich stimmig Runden zu erleben, sei mal dahingestellt. Aber beim Aufbau eines Stadtbildes sollte man keinen persönlichen Egoismus in den Vordergrund stellen, sondern an die nachfolgenden Generationen denken.
Als ich mich entschloss, der städtischen Einladung zu folgen und die Bürgerversammlung am vergangenen Dienstag zu besuchen, hatte ich zugegebenermaßen all diese Gedanken nicht im Kopf. „Verkehrsgestaltung“ war einer der Punkte des Abends, die mich deutlich mehr lockten. Mein Haus steht an einer der Gernsheimer Hauptstraßen. Wie entwickelt sich das Verkehrsaufkommen vor meiner Haustür in der nächsten Zeit? Auf diese Frage suchte ich eine Antwort. Das ebenfalls für den Abend ausgerufene Thema der Kostenbeteiligung von Anliegern bei Neugestaltung der Straßen klang durchaus auch interessant. Auch wenn ich davon ausgehe, dass solche Maßnahmen für mein Grundstück in fernster Zukunft nicht absehbar sein dürften. Ein Umbau zugunsten der Verkehrsberuhigung wäre wünschenswert. Nur, wie erwähnt, handelt es ich um eine der meistbefahrenen Durchgangsstraßen im Ort. Von den wenigen direkten Anwohnern abgesehen hat da kaum einer Interesse, den Verkehr einzudämmen.
Ich machte also im Büro meines Kunden in Frankfurt früher Schluss und setzte mich in den ohnehin schon gut gefüllten Regionalexpress. Wenige Minuten vor der Abfahrt öffneten sich die Türen und ein gigantischer Schub weiterer Fahrgäste ergoss sich in den Wagon. Ich wurde von den schimpfenden Menschen aufgeklärt, dass sie sich im vorderen Zugteil niedergelassen hatten, soeben aber aufgefordert wurden, in den hinteren Teil zu wechseln, da die vorderen vier Wagons aufgrund eines technischen Defektes abgekoppelt werden. Zehn Sonnen am Himmel und man sitzt in einem zum Bersten vollen Zug zwischen lauter fluchenden und schwitzenden Reisenden. Wie schön wäre es, jetzt in einem luftigen Auto zu sitzen? So wird das nichts mit der Wende zum vermehrten Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs. Aber dass die Bahn in Sachen ‚Dienst am Kunden‘ dem Zeitgeschehen etwa zwei Dekaden hinterher hinkt, ist ja auch kein Geheimnis. Wurde im Zuge der Bürgerversammlung am Punkt der Langzeitbaustelle ‚Gernsheimer Bahnhof‘ auch kurz thematisiert.
Aber kehren wir zurück zum Wald. Vor langer Zeit, damals als ich noch aktiven Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr versah, hielt ich mich häufiger im Stadtwald auf. Sei es für Übungen oder zum Aufbau von Fitness oder schlichtweg nur zum Spazierengehen. Dass das Rauschen der Blätter im überwiegenden Bereich des Waldes vom Rauschen des Verkehrs auf der mitten durch den Wald verlaufenden Autobahn A67 überlagert wird, verdrängt das menschliche Gehirn nach einiger Zeit. Auch die Tatsache, dass es sich um einen sowohl für die Holzproduktion als auch die Wasserversorgung bewirtschafteten Wald handelt, dementsprechend die Karte der Waldwege derjenigen der Innenstadt von Mannheim (auch „Quadratestadt“ genannt) gleicht, stört irgendwann nicht mehr wirklich. Es war ein Wald. Grün oben, grün links, grün rechts. Der Naturliebhaber in mir blühte auf. Spätestens wenn sich zwischen den Bäumen dann noch ein mutiges Reh blicken ließ, um einen neugierigen Blick auf die zweibeinigen Besucher zu werfen, wurde das Erstarken der vom Alltag ausgelaugten Kräfte intensiv spürbar.
Germany. Das Land der Germanen. Jetzt sind „die Germanen“ ein genauso undefinierter Haufen zusammengewürfelter Kleinststämme, wie „die Deutschen“. Aber nahezu alle Germanen einte eine zentrale Eigenschaft: ihnen war der Wald heilig. Diese Menschen wussten den Wert eines Baumes zu schätzen. Und damals hatten sie in den heutig nordeuropäischen Bereichen wahrlich mehr als genug Bäume.
Zum Zwecke der Industrialisierung und des Flächengewinns zum Bewohnen und Bewirtschaften haben die Menschen den Wald Stück für Stück platt gemacht. Und ganz offensichtlich geben wir dem letzten Rest jetzt auch noch den Todesstoß.
Ach, der Clark und seine Schwarzseherei wieder. Ich höre manch einen Leser schon aufstöhnen. Den mir regelmäßig gemachten Vorwurf, ich sei so pessimistisch, schmettere ich trotzdem immer wieder ab. Nein, ich bin kein Pessimist, sondern ein Realist. Ein Pessimist hat aufgegeben. Ich träume weiterhin von einer Wende zum Guten. Auch wenn ich vielleicht nicht mehr wirklich daran glaube, dass die Menschheit noch in der Lage ist, eine solche Wende hinzubekommen, bin ich fest davon überzeugt, dass solch eine Wende zumindest auf dem Reißbrett theoretisch möglich wäre. Und wenn sich eine effektive Möglichkeit zum Verbessern der Situation bietet, bin ich gerne dabei, diese zu fördern und zu unterstützen.
Während des Vortrages über die aktuelle Verfassung der Bäume in unserem Stadtwald ging es um eine reine Bestandsaufnahme. Tatsächlich wertungsfrei vorgetragen. Aber selbstverständlich kam im Anschluss an den Vortrag auch im Zuge der Fragen aus dem Publikum das Thema der Ursachen zur Sprache. Warum geht der Wald kaputt? Weil es die letzten Jahre regelmäßig heißer und trockener war, als die Jahre davor. Nein, das ist zu kurz gedacht. Die ganzen Klimaschutz-Kritiker haben ja durchaus auch Recht, wenn sie immer wieder mit dem Argument aufwarten, dass es früher auch schon extrem heiße Jahre und über mehrere Jahre andauernde Hitzeperioden gab. Auch wenn ich persönlich diesem Vergleich sehr skeptisch gegenüber stehe, denn da werden schnell Äpfel mit Birnen verglichen, ist doch zumindest der Teil der Behauptung korrekt, dass die Natur im Allgemeinen in der Lage ist, mit schwankenden Verhältnissen zurechtzukommen.
Dazu benötigt es jedoch eine gesunde Ausgangsbasis. Und eben diese hat die Natur längst nicht mehr. Im Mittelalter war das hessische Ried zu erheblichen Teilen Sumpflandschaft, also das Grundwasser direkt unter der Erdoberfläche stehend. Im Laufe der Jahrhunderte hat man durch Begradigung des Rheins und Anlegen allerei Deich- und Kanalsysteme die Gegend für einen Ausbau der Zivilisation erfolgreich trockengelegt. Die Natur zog da noch mit. Allerdings wuchs nicht nur die Bevölkerung im Ried, sondern auch in den umliegenden Metropolen. Wiesbaden und Frankfurt schritten da schon alleine gut voran. Und alle brauchten Wasser.
Und ebendieses Wasser kommt zu einem nennenswerten Teil aus den Tiefbrunnen des südlichen Rieds.
Wie wahr die Tatsache ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nur so lange als richtig gelten, bis sie durch bessere Erkenntnisse als falsch widerlegt werden, zeigte sich denn nun auch im Ried. Die vor der Genehmigung dieser horrenden Wasserentnahme in Auftrag gegebenen Untersuchungen ergaben keine Gefahr für das Grundwasser. Zwischen dem Oberflächen-Grundwasser, von dem sich die Pflanzen und Bäume versorgen und dem Tiefengrundwasser, das zur Wasserversorgung abgepumpt wird, liegen ja bis zu 100 Meter. Da wird schon nichts passieren. Falsch kombiniert, wie dann später die zahllosen Setzrissschäden der Anwohner zeigten. Im Gegensatz zu den Bauwerken der Menschen gab die Natur jedoch auf diesen Schlag ins Kreuz erst mal noch keine gar so gravierenden Zeichen von sich.
Zwischen Feststellen eines Problems und Schaffen einer Lösung liegen in marktwirtschaftlich ausgerichteten Demokratien bekanntlich Ewigkeiten. Aber immerhin wurde irgendwann eine Lösung geschaffen. Es wird Wasser aus dem Rhein entnommen und zum Versickern in den Wald geleitet. Tatsächlich stabilisierte sich so die Situation. Für die Gebäude und die ganzen von den Menschen genutzten Einrichtungen. Für den Wald jedoch verlangsamte sich nur das Zugrundegehen. Vor dem Beginn des Wasserentzuges lag der Grundwasserspiegel bei durchschnittlich 1,2 Metern. Für flachwurzelnde Nadelbäume ebenso eine angenehme Tiefe, wie für jedes neu heranwachsende Jungpflänzchen. Nun kann man mit der künstlichen Versickerung den Grundwasserspiegel recht präzise auf einer Höhe halten. Als Optimum für alle vom Menschen benötigten Errichtungen hat sich da eine Tiefe von 3,5 Metern ermitteln lassen. Für die meisten Bäume allerdings eine ganz schöne Herausforderung, das Wasser aus der Tiefe noch in ausreichender Menge bis zur Krone zu transportieren. Aber auch das hat der Wald über Jahrzehnte noch irgendwie geschafft. Wenn auch schon teilweise schwer in den Seilen hängend.
In solch einer Verfassung dann aber noch einen Hitze-Sommer nach dem nächsten oben drauf zu packen plus dann im letzten Jahr auch noch das völlige Wegfallen des Wassers von oben, sprich Ausbleiben des Regens, gab den Bäumen den Rest. Genau wie beim Menschen tritt das Sterben nicht unmittelbar ein, sondern Stück für Stück. Und genau wie beim Menschen ist die eigentliche Todesursache dann gar nicht mal die Trockenheit. Sondern die fehlende Abwehrkraft gegenüber anderen Schädlingen, die einem gesunden Baum eigentlich kaum etwas anhaben könnten. Pilzkrankheiten und Raupen- und Käferplagen fallen dann über die nahezu wehrlosen Opfer wie über ein Festmahl her. Und der Mensch steht machtlos daneben und schaut zu, wie binnen weniger Jahre, teilweise binnen weniger Monate kaputt geht, was vorher viele Jahrhunderte gebraucht hat, um zu entstehen.
Natürlich wird nun aufgeforstet. Und natürlich wird man diese Aufforstungen gleich unter Berücksichtigung der erforderlichen Schutzmaßnahmen durchführen. Teilweise, indem man auf Pflanzen setzt, die hier ursprünglich überhaupt nicht vorkamen, aber den Krankheiten gegenüber resistent sind. Und teilweise, indem man im Zuge der Selbstverteidigung schlichtweg zur chemischen Keule greift. Eine Gradwanderung, denn wie viel Kollateralschaden nimmt man zur Erreichung eines Zieles in Kauf?
Ich saß in dem Vortrag und lauschte dem Fachmann und den besorgten Bürgern. Und grübelte dabei vor mich hin. Der Rhein, einer der mächtigsten Flüsse überhaupt, war im vergangenen Jahr 2018 nicht mehr wirklich weit vom Austrocknen entfernt. Da noch Wasser abpumpen, um es in den Wald zu leiten, dürfte im Falle von Wiederholungen solcher Extremsommer irgendwann zum Problem werden. Die Sache mit dem Aufrechterhalten des Grundwasserlevels wenigstens bei diesen 3,5 Metern könnte nach meinem laienhaften Verständnis also irgendwann vermutlich nicht mehr gewährleistet werden.
Die Forderungen der Bürger, die Wasserversorgung in die Hauptstädte zu reduzieren, ist als erste Schutzreaktion verständlich, aber für mich ein erschreckendes Zeichen, denn aus diesem „ich zuerst“ speist sich ja der ganze Rechtsruck, unter dem derzeit die halbe Welt leidet. Es werden gemeinsame Lösungen für diese Probleme benötigt. Die Welt ist zu klein geworden für egoistische Ideen. Gerade wenn ich da an meine Zeit als nach Mitgliedern suchender Vereinsvorsitzender zurück denke, fällt mir der wohl meistverwendete Ausreden-Satz der Gernsheimer ein: „ich schlaf hier nur. Tagsüber bin ich nicht da, sondern zum Arbeiten in den Großstädten rundherum.“ Will heißen, zum Geldverdienen sind die Metropolen gut genug. Wasser verbrauchen sollen sie aber gefälligst keins. Das funktioniert nicht.
Was mich aber weit mehr bedrückte, war ein weit allgemeinerer Gedankengang: Südhessen, gerade im Bereich der Rheinanlieger, gehört zu den wasserreichsten Regionen Europas. Wenn denn hier unser Wald schon heute in einem dermaßen desolaten Zustand ist, wie mag es im Rest von Deutschland, im Rest von Europa aussehen? Das Wetter war ja letztes Jahr überall dasselbe. Unter der Trockenheit hat der ganze Kontinent gelitten. Also auch Regionen mit einem durch Sturmschäden und andere Beanspruchung der Jahrzehnte vorher schon weit schwächeren Wald. Werden unsere Urenkel vielleicht in einer steppenmäßig kahlen Landschaft leben? Oder erleben eventuell bereits unsere Kinder diesen Zustand schon?
Wenn ich mir dann morgens beim Lesen der Nachrichten ansehen muss, mit welcher Vehemenz weiterhin auf breiter Front jegliche Klimaveränderung geleugnet wird, kommt mir manchmal echt das Essen hoch. Die Menschheit hat längst den Punkt überschritten, an dem man zum Zeitvertreib über die Schuldfrage diskutieren könnte. Ja, ich gehe mit meinen Behauptungen sogar so weit, dass ich sage, es spielt nicht einmal mehr eine Rolle, ob denn die Klimaschützer oder die Klimawandelleugner mit ihren Argumenten Recht haben. Um ganz ehrlich zu sein, ist es mir persönlich ziemlich schnuppe, WARUM sich das Klima gerade so extrem zum Nachteil des menschlichen Wohlbefindens ändert. Weit wichtiger ist es doch wohl, dass man sofort beginnt, alle Register zu ziehen, um diese Entwicklung zu stoppen! Wenn wir Menschen schon die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten dazu haben, das Weltklima zu beeinflussen, dann sollten wir es doch einfach auch nutzen, um etwas Gutes daraus zu machen, statt denn mit totalem Vogel-Strauß-Verhalten dem Niedergang von allem zuzusehen, was unser Leben ausmacht.
Aber vermutlich bin ich da mit meinem halben Jahrhundert schlicht noch immer zu naiv. In jedem Manne steckt ja angeblich in Kind. Ich will mich da nicht ausschließen. Wie bei einem Kind mag man dann durchaus auch mir einen gewissen Trotzkopp nachsagen. Denn ich bleibe unverrückbar dabei: ich bin kein Pessimist. Ich bin ein Realist, der mit offenen Augen durch die bestehende Realität wandert. Und der Wald bei Gernsheim, durch den ich heute persönlich zum Fotografieren geradelt bin, ist nachweislich am Ende.
Ein weltverbesserungswünschender Gruß
Euer Clark