Gott ist ein Missverständnis
„Ich bin ein armer Schreiber nur, hab weder Haus noch Acker, doch erfreut mich jede Kreatur, sogar der Spatz, der Racker.“
Wilhelm Busch, deutscher Dichter und Zeichner
Joane Osborne gelang 1995 ein One-Hit-Wonder mit dem Song „One of us“. Was, wenn Gott einer von uns wäre? Ein Chaot wie Du und ich? Ein Fremder, der auch nur versucht, nach Hause zu kommen. Diese Frage stellt der Refrain des zum Ohrwurm tauglichen Liedes. Und wie bei sehr vielen durchaus ernst zu nehmenden Songtexten, geht bei den Hörern der Inhalt der Botschaft auch hier ziemlich verloren. Die Erinnerung an dieses Lied kommt mir, während ich den Spatzen auf meiner Fensterbank zuschaue. „Ich bin Gott“ schießt es mir durch den Kopf.
Woher diese Erleuchtung? Vor meinem Bürofenster wurde vor ein paar Jahren eine kleine Grünanlage um eine Statue des Brückenheiligen Nepomuk angelegt. Im modernen Stil eher nüchtern und aus Sicht der Natur ziemlich monoton. Ein bisschen Grasfläche, eingerahmt von einer schmalen, kniehohen Hecke. Und mehrere in Form von Kugeln und Würfeln gestutzte Büsche. Plus direkt vor meinem Wohnzimmerfenster ein einzelner Baum.
Im ersten Jahr tat sich der Baum recht schwer. Im ansonsten mit Betonplatten ausgelegten Bürgersteig hat das Wurzelwerk ein kleines Quadrat an mit Rindenmulch bedeckter Erde. Nicht wirklich ausreichend, um eine so große Pflanze mit Regenwasser zu versorgen. Die Wurzeln mussten sich zuerst einmal ins Grundwasser vorarbeiten, was Dank des Rheinbettes nur zweihundert Meter entfernt glücklicherweise keine allzu große Herausforderung war.
Im zweiten Jahr trug der Baum schon eine beachtliche Krone. Im dritten Jahr verdeckte das Blätterdach des Baumes eins meiner Wohnzimmerfenster vollständig. Ich war vor der morgens mit viel Energie auf genau diese Hausseite brennenden Sonne geschützt. Und konnte zudem zahlreiche kleine Vögel betrachten, die spielend zwischen den Ästen des Baumes und meinem in diesem Jahr nicht mehr bepflanzten Blumenkasten auf der Fensterbank hin und her hüpften. Ein bisschen Natur mitten in der Stadt. So soll es doch sein.
Doch der unverschämte Baum wagte sich glatt, mit seinen Blättern an der blütenweißen Hauswand des Nachbargebäudes zu reiben. Auch der auf den Blättern gesammelte Staub spritzte beim Regen in die Ritzen des Rauputzes und sorgte dort für optische Schatten in der makellosen Fassade. Prompt ging bei der Stadtverwaltung eine Beschwerde ein, die vom für die Pflege zuständigen Bauhof mit einem Radikal-Zurückschnitt im Herbst quittiert wurde.
Im folgenden Frühjahr und Sommer brauchte der Baum weitaus länger, um nochmals zur vorherigen Größe zu kommen. Aber das war ja auch der gewollte Zweck des Zurückschneidens. Als im Herbst dann die Beschneidungskollonne erneut anrückte, versuchte ich, ein Veto gegen den Radikalschnitt einzulegen. Doch ohne Erfolg. Ein kümmerliches Restköpfchen des Baumes blieb übrig, als die orangenen Fahrzeuge wieder abrückten. Ein einsamer Spatz verirrte sich gelegentlich nochmal auf meinen Balkonkasten und schaute mich traurig durch die Scheibe an.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt der Schöfferplatz mit seinen Rasenflächen. In der Vergangenheit immer ordentlich kurz gehalten und zu keiner bestimmten Nutzung vorgesehen. Bei ganz seltenen Veranstaltungen auf dem Platz steht mal ein Schausteller auf der Grünfläche. Im Regelfall dient sie jedoch nur den Hundebesitzern als Abort für den Vierbeiner. Doch seit einigen Jahren wird vom Bauhof in der Mitte der Fläche ein kreisrundes Blumenfeld angelegt. Eine kleine Insel als Rückzugsort für die kleinsten Mitbewohner im Stadtgebiet: die Insekten. Und wenn in voller Blüte stehend zudem ein wunderbarer Augenschmaus für uns Menschen.
Etwas für die tierischen Zeitgenossen tun, und sei es nur etwas Kleines. Aus diesem Gedankengang heraus verzichtete ich auf eine Neubepflanzung meines Balkonkastens vorm Fenster und schüttete stattdessen etwas Streufutter aus dem Baumarkt auf die Erde. Um das Futter vor Regen zu schützen, schraubte ich noch ein Brett darüber. Fertig war das Buffett für die gefiederten Besucher. Die mich seitdem auch regelmäßig das ganze Jahr über mit reichlich Gezwitschere unterhalten. Auch wenn sie nie richtig zutraulich werden. Der Zweibeiner auf der anderen Seite der Fensterscheibe bleibt den Piepmätzen suspekt.
In diesem Jahr musste ich meine Konstruktion nun auch noch ein bisschen weiter aufrüsten, um ungebetene Gäste fernzuhalten. Flugratten haben sich über die Körner der Singvögel hergemacht. Man kennt sie eher unter dem Trivialnamen „Tauben“. Es bedurfte eines gebastelten Gitters, um diesen niemals satten Staubsaugern den Zugang zu verwehren. Und es dauerte nochmal ein paar Tage, bis die Sperlinge ausreichend Vertrauen gegenüber den plötzlich die Flugbahn einschränkenden Stangen entwickelten.
Vermutlich bin ich ein bisschen mitschuld, dass die Population an Hausspatzen in den Büschen rund um die Statue in diesem Jahr etwas explodiert ist. Außer Eier legen, im Staub baden und sich bei mir den kleinen Bauch vollschlagen, brauchen die Singvögel nichts mehr zu tun. Wie die anderen gelben und grünen Federtiere heißen, die ebenfalls täglich einkehren, muss ich bei Gelegenheit einmal nachschlagen.
Ein bisschen ärgert es mich dennoch, dass kein einziger der zahlreichen Vögel endlich mal seine Scheu ablegt und ein etwas zutraulicher wird. Würde vor allen Dingen das Fotografieren leichter machen. Aber nein, sobald das Federvieh auch nur eine Bewegung erahnt, stürzen sie sich schon kollektiv über die Reling.
Nun ist mir in den letzten Monaten zweimal zwischendurch das Futter ausgegangen. Zudem war ich manchmal für ein paar Tage unterwegs, wodurch außer ein paar Schalen von Sonnenblumenkernen und blanker Erde nichts mehr in dem Blumenkasten übrig blieb. Mit ihrem winzigen Schnabel entpuppen sich diese kleinen Tiere als richtig leistungsfähige Grabungsspezialisten, durfte ich dazulernen. Aber irgendwann geben auch die unteren Erdschichten in dem Blumenkasten einfach kein einziges Krümelchen Futter mehr her.
Das sind dann die Momente, in denen ich einzelne Spatzen auf dem als Dach über dem Kasten montierten Brett sitzen sehe und beim Trällern eines Klageliedes zuhören darf. Statt dem sonst so fröhlichen und maschinengewehrschnellen Gezwitschere handelt es sich hierbei um ein mit Nachdruck extralaut und langsam in die Welt hinaus geworfenen Piepsen. Ja, ich kann inzwischen im Büro am Schreibtisch sitzend nur anhand des Zwitscherns erkennen, wann das Futter im Blumenkasten zur Neige geht.
Wenn ich dann nach nebenan gehe, um für zwei Handvoll Nachschub zu sorgen, entdecke ich regelmäßig die Sperlingsgemeinde mit der Schwanzspitze in Richtung Fenster sitzend und das Leid der aufkommenden Hungersnot in Richtung des offenen Platzes hinauszwitschern. Nähere ich mich dem Fenster, beginnt wieder die gewohnte Massenflucht in aller Panik.
Als ich mir vor ein paar Tagen nun wieder einmal gerade die Fingernägel schmerzhaft umbog beim Versuch, den viereckigen und gegen Kinder, Motten und Naturkatastrophen gesicherten Futtereimer zu öffnen, fluchte ich den flüchtenden Vögeln hinterher, „was denkt Ihr denn, wo das frische Futter ständig herkommt?!“
In diesem Moment kam mir ein Gedanke. Was, wenn die Vögel tatsächlich keinen Zusammenhang zwischen dem aus ihrer Sicht angsteinflößend riesigen Menschen und dem wiederkehrenden Erscheinen von Futter an diesem Platz sehen können? Gab es einen Vorfahren-Spatz, der vor zwei Jahren jammernd auf dem nahezu abgeholzten Baumrest saß und sich dem Hungertod ausgeliefert sehend mit letzter Kraft piepsend um ein Wunder bat? Dann beim Wegfliegen zufällig meinen Balkonkasten entdeckte. Zu dem er gleich seine Familie und Freunde führte. Und ihnen erzählte, dass sein Klagegesang offensichtlich erhört wurde, denn nur dadurch erschien ihm die Futterquelle.
Nun sitzt eine Generation von Spatzen nach der nächsten da und zwitschert zum unsichtbaren Vogelgott, er möge doch bitte Manna vom Himmel regnen lassen. Und siehe da, alle paar Tage werden sie erhöht. Wie viel des wunderbaren Futters ihnen wohl zur Verfügung stehen könnte, wenn da nicht so ein stoppelbärtiges Monster ständig an dem Balkonkasten auftauchen würde und was wegnimmt. Bestimmt gibt es unter den Spatzen auch Horrorgeschichten über diese mit Armen und Beinen versehenen Großwildtiere zu berichten, die mit Krach erzeugenden Maschinen manch einem Zeitgenossen vorzeitig das Licht ausgeblasen haben.
Dass ich zur gleichen Spezies gehöre, wie die Autofahrer, unter deren Reifen oder an deren Windschutzscheibe sicherlich schon einige Vögel ihr Leben gelassen haben, kann ich nicht einmal leugnen. Vielleicht habe ich irgendwann auch mal unwissentlich einen Zeitpunkt erwischt, an dem ich ein neues, extra leckeres Futter ausgestreut habe, während an genau dem Tag ein Vogel überfahren wurde. Bringen die Piepmätze nun dem unsichtbaren Vogelgott irgendwelche Kükenopfer dar, damit er sie mit ausreichend Nahrung versorgt und immer vor dem Monster am Fenster beschützt?
Gibt es vielleicht schon einen Wissenschaftsspatz, der sich vergeblich Gehör zu verschaffen versucht, weil er etwas von diesem Glauben Abweichendes beobachtet hat? Wurde er gar schon aus der Spatzengemeinschaft verbannt und fristet nun einsam auf irgendeinem Acker außerhalb der Stadt vor sich hin?
Fragen über Fragen, die vor allem eins dokumentieren: ich gehe mit zu viel Fantasie ans Füttern der Vögel. Oder vielleicht doch nicht?
Allmächtige Grüße von
Eurem Clark