Früher war alles besser. Wirklich?

„Wie wenige Menschen, auch die tapfersten, haben jemals den Mut, klar einzugestehen, ihre Anschauung von gestern sei Irrtum und Unsinn gewesen.“
Stefan Zweig, österreichischer Pazifist

Schon mal etwas von einem Phraseologismus gehört? Nein? Ich bis zur Recherche dieses Blogeintrags hier auch nicht. Den Begriff „Idiom“ kannte ich schon, wusste jedoch nicht, dass es in der Sprachwissenschaft auch noch einen darüberhinausgehenden Fachbegriff für solche zu feststehenden Bedeutungen verschmolzene Wortfolgen gibt. So kann man nebenbei Neues dazu lernen. Etwas, das diejenigen, die mich zu diesem Artikel inspirierten, jedoch rein aus Prinzip niemals tun werden.

Der sprachliche Fertigbaustein, dessen tiefere Bedeutung weit über die Aussage der einzelnen Worte hinausgeht (so die korrekte Definition), um den es heute gehen soll, sind die berühmten „Alten weißen Männer„. Jeder weiß ziemlich genau, was gemeint ist, wenn man dieses Phrasem verwendet. Und nahezu jedem ist auch bewusst, dass es diese Sorte Mensch auch in jung, mit dunkler Hautfarbe und in weiblich gibt. Es geht um Personen, die bis zur totalen Unvernunft hin jeden noch so belegten Fakt leugnen, um ihr meist erzkonservatives Weltbild bloß nicht in Frage stellen zu müssen.

Nach einem für mich ziemlich anstrengenden Gespräch mit einer älteren Frau, die zeitlebens treu ihr Kreuzchen bei allen Wahlen der Unionspartei widmet, fing ich an zu grübeln. Die Frau klärte mich auf, dass sie den Werteverfall und die gesellschaftliche Entwicklung als dermaßen gravierend empfindet, dass sie eine Besserung nur durch ein Wachrütteln in Form einer Regierungskoalition ihrer Wunschpartei mit denen für erforderlich hält, die sich selbst eine Alternative nennen.

Streng am Grundsatz der Aufrechterhaltung der eigenen seelischen Gesundheit festhaltend, niemals in Diskussionen einzusteigen, aus denen kein Mehrwert für die beteiligten Gesprächspartner zu erwarten ist, habe ich die Unterhaltung an der Stelle dann auch abgewürgt. Doch, wie gesagt, sie beschäftigt mich seitdem unentwegt. Denn die blauen Umfragewerte und die ungebrochene Zustimmung zum schwarzen Lager lassen bei jedem Blick in die Nachrichten klar erkennen, dass meine Gesprächspartnerin kein seltener Einzelfall ist, sondern inzwischen eher zu einer Art wachsender Gefährdung wird.

Ich werde beim Betrachten der politischen Entwicklung insgesamt ja schon seit langem nicht mehr müde, von der „Weimarer Republik 2.0“ zu sprechen. Selbst ohne dass ich aktiv danach suche, sind es solche Unterhaltungen, die mich immer wieder in dieser Überzeugung bestätigen. Aus einer wirtschaftlichen Glanzzeit, die Wohlstand für alle versprach, rutschte die Weltwirtschaft in eine Krise. Die deutschen Landen ächzten unter den Schulden aus den Reparationsleistungen des ersten Weltkriegs. Ein Weltkrieg, der die jüngeren Bevölkerungsteile extrem dezimiert hat, so dass die Zügel für den weiteren Werdegang fest in der Hand angeblich erfahrener Menschen lagen: alte weiße Männer.

Wo sind wir heute? Nach glanzvollem Wohlstandswachstum, auf dem sich alle ausruhten und keinen Pfifferling auf die Zukunftsvorsorge verwendeten, steht die Welt insgesamt heute nun vor einem Berg von Krisen. Nach mehreren Jahren Corona-Pandemie und verschiedenen Kriegen rundherum ist nun auch wieder die Schuldenlast schier erdrückend. Das lockere Leben und die Perfektionierung von Verhütungsmitteln sorgten für einen Nachwuchsschwund sondergleichen. Wieder steht dem Lager der vornehmlich es gut meinenden ergrauten Generation kein nennenswertes junges Gewicht entgegen.

Aber kann es denn richtig sein, dass Menschen, die den größten Teil ihres Lebens bereits hinter sich haben, durch ihre Engstirnigkeit, ja teilweise klar zu diagnostizierenden Altersstarrsinn, den nachrückenden Generationen einfach die Zukunft versauen? Dieser Gedanke lässt mich einfach nicht mehr los seit der für mich so frustrierenden Unterhaltung.

Was ist das Gegenteil von gut? Gut gemeint. Auch das ist eine altbekannte Lebensweisheit. Wobei ich mir bei den Gedankengängen von Menschen, die sich nicht in der Lage sehen, aus der Freiheit eines demokratischen Systems für sich selbst etwas Gutes herauszuholen und deshalb nach den eingrenzenden Fesseln einer Autokratie rufen, nicht sicher bin, ob sie es wirklich gut meinen. Die breite Masse des Volkes mag sich mit Brot und Spielen recht einfach zur Gefolgschaft ködern lassen. Aber die Leithammel des braunen Tsunamis, wie die angebliche Alternative inzwischen schon respektvoll genannt wird, sind doch überwiegend hoch gebildete und in Sorglosigkeit lebende Menschen. Menschen, die ganz genau wissen, was sie tun. Menschen, die das was sie tun und sagen nicht nur gut meinen, sondern vollkommen davon überzeugt sind, weil sie einen größeren Plan verfolgen. Einen Plan, von dem sie selbst wissen, dass er nicht funktionieren kann. Noch nie in der ganzen Menschheitsgeschichte funktioniert hat.

Auch hier kann man wieder zahllose Parallelen zu den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lokalisieren, wenn man sich mal die Mühe macht, an der ziemlich einseitigen und nur auf Effekthascherei bedachten Tagesberichterstattung vorbeizuschauen. Eine so unübersehbar das Allgemeinwohl vernichtende politische Idee, wie die angebliche Alternative wäre schon in den Geburtswehen verhungert, wenn es nicht eine Interessensgemeinschaft an Großkapital dahinter gäbe, die sich vor den katastrophalen Auswirkungen einer Umsetzung des radikalnationalistischen Gedankenguts in Sicherheit wiegt und sich darüber hinaus auch noch weiteren Profit verspricht. Denn an dieser Stelle kommt der alte Faktor „Mensch“ dann doch wieder zum Tragen. Es ist die Gier nach Macht und Kapital einzelner Weniger, die zur Ausbeutung vieler führt. Und da das System der freiwilligen Ausbeutbarkeit, nennen wir es kapitalistisches Wohlstandversprechen, inzwischen sichtlich seinen Zenit überschritten hat, muss eben ein neues Modell her. Alte weiße Männer mögen jedoch nichts Neues. Also tut es ersatzweise auch etwas altes, mehrfach erprobtes. Dass es nie lange funktioniert hat, spielt dabei keine Rolle. Alte weiße Männer sind dermaßen davon überzeugt, es dieses Mal besser zu machen und die „kleinen Fehler“ des vergangenen Versuchs einfach zu vermeiden.

Das Prinzip dahinter ist recht einfach. Ich beobachte es in meiner Coaching-Tätigkeit im Kleinen regelmäßig in allen möglichen Betrieben. Es gibt Führungskräfte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ihr Personal ununterbrochen weiterentwickeln und besser werden lassen. Und es gibt Vorgesetzte, die ihre eigene Position dadurch sichern, dass sie ihre Untergebenen von jeglicher Weiterentwicklung abhalten. Wenn man sich als leitender MITtarbeiter Gedanken darüber macht, wie man das Potential der Kollegen, für die man verantwortlich ist, fördern kann, ist das zwar eine Herausforderung für einen selbst, sorgt jedoch nebenbei dafür, dass man auch weiterhin an der führenden Position bleibt, denn alle werden gleichzeitig besser. Den ‚Vorgesetzten‘ jedoch ist die eigene Weiterentwicklung meist viel zu anstrengend. Sie halten sich bereits für perfekt. Und damit sie das auch bleiben, müssen sie eben viel Energie darauf verwenden, die untergeordneten Arbeitskräfte dauerhaft dumm genug zu halten, damit sie es nicht merken. In der Business-Welt gibt es für beide Management-Methoden zahllose Herangehensanleitungen. Das zugrundeliegende Muster ist jedoch immer das gleiche.

Und ebenso das Gleiche ist es auch in der Politik. Nachdem eine Regierung über viele Jahrzehnte hinweg sich nur noch auf Verwaltung des einstmals erschaffenen Wohlstands konzentriert und dabei einen alle zukünftige Innovation ausbremsenden Organisationsapparat aufgebaut hat, wird es für das Volk irgendwann ungemütlich, sobald der gewohnte Wohlstand zu schwinden beginnt. Wenn in einem Land, in dem der Familienvater sein Auto manchmal mehr liebt, als seine Kinder, die eigene Automobilindustrie schwächelt, während im Ausland eine sensationelle Neuheit nach der nächsten entwickelt wird, könnte man darüber nachdenken, vielleicht die Ärmel hochzukrempeln und sich wieder zu den technologischen Spitzenkräften zu entwickeln, die es zu Großvaters Zeiten mal in diesem Land noch gab. Man kann aber ‚alternativ‘ auch einfach eine Partei wählen, die verspricht, die Grenzen zu schließen und keine ausländischen Autos mehr auf die deutschen Straßen zu lassen. Den damit einhergehenden Nebeneffekt erwähnt man dabei nicht: irgendwann warten eben alle wieder zehn Jahre auf ihren Trabi aus Plaste, weil einfach gar nichts mehr nachkommt.

Aber dann kann man ja immer noch einfach in den betreffenden Ländern einmarschieren und sich nehmen, was man möchte. Ausreden dafür finden sich dann auch genug, immerhin haben die Chinesen ihren ganzen Wohlstand ja nur erschaffen können, indem sie den armen Europäern ihr ganzes Wissen gestohlen haben. Da ist es nur legitim, sich zurückzuholen, was einem sowieso gehört. Indem man die Straßen nach Osten für die bald darüber rollenden Panzer ausbaut, hat man gleich auch noch das Problem mit der Arbeitslosigkeit gelöst. Und wenn dann immer noch Arbeitskräfte fehlen sollten, kann man ja die ganzen Schwulen und nicht in Deutschland Geborenen und Oppositionellen zwangsrekrutieren.

Ich muss aufhören, mir die Geschichte weiter vorzustellen. Und doch spukt sie immer wieder in meinem Kopf herum, wenn ich mir die Wahlprognosen zu den jetzt anstehenden Landtagswahlen mit den Ergebnissen der Reichtagswahlen 1933 vergleiche. Jeder einzelne Landtag, der sich mehr ins Blaue verfärbt, wird das Fundament für den Wahlausgang bei der nächsten Bundestagswahl festigen. Und auch wenn man in den Unionsparteien nach offizieller Redensart aktuell noch an der „Brandmauer“ festhalten mag, lassen sich ausreichend Hinweise erkennen, dass diese Mauer nur aus Pappe gemacht ist. Wenn die politische Macht zum Greifen nahekommt, interessiert das Geschwätz von gestern keinen mehr.

Was also tun mit den alten weißen Männern? Überzeugungsarbeit leisten? Meiner Meinung nach ist das inzwischen Energieverschwendung. Für einen konstruktiven Dialog braucht es zwei Seiten, nicht nur einen, der redet, sondern auch einen Zuhörer. Da sind jedoch längst die Rollladen runter, kein Durchkommen mehr möglich. Welche Möglichkeiten gibt es denn noch? Sichtbaren Protest? Nein, auch das ist für die Füße. Die ganzen Friday-for-future- und Letzte-Generation-Aktionen stellen unserer Gesellschaft doch jetzt schon ein überdeutliches Armutszeugnis aus. Wir sind in einem Zeitalter angekommen, in dem Menschen dafür demonstrieren müssen, dass gesunder Menschverstand in der Politik angewendet wird. Die ganzen Proteste verlangen ja gar keine Revolutionen, sondern einfach nur das ordnungsgemäße Umsetzen bestehender Gesetze. Und selbst das ist ja schon zu viel verlangt.

Man kann sich selbst politisch engagieren. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man dafür eine enorm hohe Frustrationsschwelle braucht. Ich könnte auch nicht den Job eines Ernährungsberaters machen, bei dem jeden Tag aufs Neue adipöse Menschen aufschlagen, die einfach von der Chipstüte vor dem Fernseher nicht lassen können. Dafür habe ich selbst zu viele Laster, als dass ich nicht wüsste, wie unsagbar schwer es ist, andere Menschen zu einer Veränderung ihrer eingebrannten Einstellungen zu bewegen. Wer es seit Jahrzehnten gewohnt ist, dreimal im Jahr ins fernste Ausland in Urlaub zu fliegen, tut sich schwer damit, in die Fußstapfen der Urgroßeltern zu treten, die sich maximal einen Urlaub alle zwei Jahre mit dem Auto innerhalb Deutschlands leisten konnten. Nein, freiwillig ändern sich Menschen nicht. Erst muss man das Land in Schutt und Asche legen, damit wieder Wertschätzung für das aufkommt, was man früher mal hatte.

Wenn man sich lange genug alle Möglichkeiten vor Augen führt, die nicht dazu taugen, die Entwicklung aufzuhalten, kommt man irgendwann resigniert zu dem Schluss, dass ein Dasein als Mitläufer vielleicht auch seinen Charme hat. Vermutlich ist das die Ursache für das große Schweigen der Menschen. In allen möglichen Umfragen wird immer wieder deutlich, dass die breite Masse sich nicht im Geringsten mit den Inhalten des Wahlprogramms der AfD anfreunden kann. Kaum einer will aus der EU raus. Die meisten wollen eine Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn. Den demographischen Wandel der alternden Bevölkerung möchten auch viele weit lieber durch Einwanderung lösen, als denn dem deutschen Weibchen das Kinderkriegen zu verordnen. Grenzen respektieren wird ebenfalls gern gesehen, ohne sie gleich durch Blutzoll gewaltsam zu verteidigen.

Nur wenn dem so ist, dass die wahlberechtigten Menschen in Deutschland eigentlich das gar nicht wollen, wofür die AfD steht, woher kommen dann diese abstrusen Umfrageergebnisse? Besteht hier nicht die Gefahr einer selbst erfüllenden Prophezeiung? Wenn alle ununterbrochen von einer Wiederkehr des Faschismus reden, dann wird er zwangsläufig auch wiederkommen. Nein, nicht „wiederkommen“. Er war in diesem Land niemals weg. Er wird zu alter Stärke zurückkehren. Mit allen damit einhergehenden Konsequenzen. Auch der Konsequenz, dass irgendwann Menschen sich mit dem Satz entschuldigen werden, „das habe ich nicht gewusst“.

Etwas frustrierte Grüße

Euer Clark

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