Fahrtzeitgedanken eines Europareisenden
„Der Himmel ist, wo die Polizisten Engländer, die Liebhaber Italiener, die Köche Franzosen, die Organisatoren Deutsche und die Financiers Schweizer sind.
Die Hölle ist, wo die Köche Engländer, die Organisatoren Franzosen, die Liebhaber Schweizer, die Polizisten Deutsche und die Financiers Italiener sind.“
Willy Meurer, deutsch-kanadischer Aphoristiker
Kürzlich habe ich eine Freundin im Urlaub besucht. In De Haan an der belgischen Nordseeküste. 530 Kilometer, gute fünf Stunden Fahrt. Bei meinem heutigen Fahrstil und vielleicht eins, zwei Päuschen zwischendurch wohl eher satte sechs Stunden. Immerhin soll die Reise ja auch für mich ein kleiner Kurzurlaub werden, da brauche ich keine Hektik auf die Straße zu bringen. Was gibt es vorzubereiten? Grüne Deckungskarte der Autoversicherung für Auslandsfahrten besorgen. Bei der Bank ausreichend Geld in der fremden Währung bestellen und abholen. Am besten zusätzlich auch noch ein paar Traveler-Schecks besorgen. Den Reisepass zum Konsulat schicken und ein Visum beantragen. Tausend Formulare, teilweise in fremder Sprache ausfüllen. Geld dazulegen nicht vergessen. Bestimmungen über das Mitbringen von Geräten und Lebensmitteln recherchieren, damit ich mit meinem Wein und Ouzo im Gepäck an der Grenze keine Schwierigkeiten bekomme. Die fremden Verkehrsregeln und Schilder nachlesen und lernen. Vor allen Dingen erkundigen, an wen man sich im Falle eines Unfalles wenden muss. Hach, es gibt so schrecklich viel zu tun, bevor man endlich losfahren kann. Das verleidet einem ja die ganze Reiselust.
Stopp! Das war einmal. Spätestens seit 1993 ist das Geschichte. Heute packe ich mir ins Auto, was immer ich möchte, tanke einmal voll und fahre los. Durchquere die Niederlande bevor ich nach Belgien komme. Das „Ping“ meines Handys teilt mir mit, dass es sich in das ausländische Netz eingeloggt hat, in dem mich die Telefonate genau wie zuhause gar nichts kosten, weil in meiner Flatrate enthalten. Wenn ich die 112 wähle bekomme ich geholfen und selbst den ADAC kann ich von dort aus anrufen und mir Hilfe schicken lassen. Es ist so vollkommen selbstverständlich geworden, dass wir in Europa ohne wirkliche Grenzen zusammenleben. Ich sinniere noch über diese Annehmlichkeiten, während ich im schleppenden Verkehr um die zur europäischen Zentrale gekürte Stadt Brüssel herum krieche. Mit zu viel Verkehr hat man also auch in Belgien zu kämpfen. Dieser Feststellung, dass wir Menschen uns mit viel zu viel Mobilität das Leben vergiften, habe ich aber schon einen eigenen Gedankengang gewidmet. Ich bekomme diese Erkenntnis nur durch simple Beobachtung immer wieder aufs Neue bestätigt.
Meine Tochter kennt die Zeiten vor der Gründung der Europäischen Union nicht mehr. Vom eisernen Vorhang und der starren Ost-West-Trennung der Welt weiß sie allenfalls aus dem Geschichtsunterricht in der Schule. Und wir alle wissen, wie wahnsinnig interessant das Wälzen verstaubter Vergangenheitsbewältigung auf der Schulbank war. Das ist lange her. Das ist längst vergessen. Das ist vorbei und erledigt.
Aber ist es das denn wirklich?
So ziemlich jeder Blick in die täglichen Nachrichten lässt mir einen neuerlichen Schauer den Rücken hinunter laufen. Es scheint immer mehr Stimmen zu geben, die gerne wieder Grenzen ziehen, Mauern aufbauen, abgrenzen und isolieren möchten. Stimmen, die eine „gute alte Zeit“ zurückholen wollen, die es so eigentlich niemals gab. Ich versuche vehement, mich dem Phänomen der so genannten Filterblase zu entziehen, indem ich verbissen nach positiven Nachrichten suche. Aber es mehren sich die Auffassungen, alles innerhalb Deutschlands sei gut und außerhalb der deutschen Grenzen existieren nur Blutsauger, die auf ‚unsere‘ Kosten leben wollen. Nicht ganz einig sind sich die Hetzer manchmal über den Grenzverlauf rund um das zu verteidigende Deutschland: die seit 1990? Oder eher die ab 1949? Oder besser gleich die von 1933?
Ich habe beim Recherchieren eine informative Seite mit den Karten Europas zu den jeweiligen Jahrhundertwenden gefunden: www.Erstelleneuratlas.net/history/europe/. Schon der kleine Schritt in die verhältnismäßig nahe Vergangenheit des Jahres 1800 zeigt kein ‚Deutschland‘ mehr. Aber zumindest trug die Nordsee damals diesen stolzen Namen. Mich schaudert es erneut, wenn ich mir auch nur ansatzweise vorzustellen versuche, wie viele Menschenleben ein jeder neuer Grenzverlauf auf den Karten der einzelnen Jahrhunderte gekostet hat. Was um alles in der Welt hätte man erzeugen und erreichen können, wenn man diese Energie sinnvoll investiert hätte.
Mit Forschung und Entwicklung lassen sich aber keine Bevölkerungsmassen bewegen. Mit Angst hingegen schon. Ohne Bewegung der Menschen lässt sich kein Geld verdienen. Zum Vermehren von Macht und Kapital sind am Ende alle Mittel recht. Wobei man in einer wohlstandsverwöhnten Zeit, wie der unseren heutzutage, offensichtlich nicht sonderlich viele Mittel aufzubringen braucht, um Stimmungsbilder zu generieren. Sechs Stunden Fahrt sind eine lange Zeit, um sich in Gedanken zu verlieren. Ich versuchte zwischendurch, mich mit dem Radioprogramm abzulenken. Funktionierte bis zu den nächsten Nachrichten, die mich mit ziemlicher Heftigkeit sofort wieder in den Grübelmodus zurückfallen ließen. Selbst der gerade eigentlich die komplette Zivilisation beschäftigenden Fußballweltmeisterschaft gelingt es nicht, die chronischen Horrormeldungen über Terror und Anschläge, Not und Flüchtlinge zu verdrängen. Nachrichten hören bedeutet, über die offensichtliche Schwarmdummheit der Menschheit nachzudenken. Aber das tue ich so schon genug. Da brauche ich keine allzu oft populistisch aufgemachte und zudem ziemlich einseitige Berichterstattung. Kann man einer Terrororganisation eine bessere Publicity verschaffen, als ich den schillernsten Farben und möglichst detailreich und in einer ununterbrochenen Kontinuität über deren Schandtaten zu berichten? Von den Millionen aktiven Flüchtlingshelfern und den tausenden Seerettern schaffen es auch nur diejenigen in die Nachrichten, die einen spektakulären Tod sterben oder anderweitig negative Schlagzeilen verursachen. Von den nachweislich viel umfangreicheren guten Taten spricht niemand. Nur wenn Blut fließt ist eine Steigerung der Auflagenstärke zu erwarten.
Nicht mal mehr ein simpler Spielfilm bringt das Zeug zum Blockbuster zusammen, wenn darin nicht tausende Menschen hinweg gemetzelt werden. Am besten ganze Kulturen, Planeten, Galaxien vernichten. Was ist schon noch ein Menschenleben? Und was soll aus Menschen werden, denen aufgrund solcher Dauerberieselung jegliche Empathie abhandenkommt? Der Übergang vom Spielfilm zur Realität ist fließend. Ein Toter ist schrecklich. Hundert Tote sind eine Schlagzeile. Tausende Tote sind nur noch eine abstrakte Zahl. Kam im Fernsehen. Morgen spielen sie in einem anderen Film mit. Ich hol mir mal noch’n Bier aus’m Kühlschrank.
Ab und zu wandern meine Gedanken vom Grübeln zurück zu meiner Umgebung. Beispielsweise, als ich an dem Schild „Willkommen in den Niederlanden“ vorbei fuhr und schlagartig Ruhe in meinem Wohnmobil herrschte. Eine Diskussion, die ich schon gefühlte tausend Mal mit unzähligen Menschen geführt habe. Ich behaupte, die Holländer bauen einfach viel bessere Straßen, als die Deutschen. Als Argument bekomme ich dann immer wieder vorgehalten, dass in den Niederlanden ja viel weniger Verkehr unterwegs sei. Blödsinn, wie ich finde. Die Lkws, die mit mir gerade auf der A4 Deutschland verlassen haben, lösen sich ja nicht an der Grenze in Luft auf. Der Asphalt unter mir muss genauso viel aushalten, wie zehn Kilometer zuvor auch. Nur der holländische Asphalt schafft das auch. Während mein Womo bis zur Grenze noch einem rabiaten Belastungstest einer jeden Verschraubung ausgesetzt war und es an allen Ecken und Enden klapperte und rasselte, rollen meine Reifen nun über eine absolut spiegelglatte Fläche. Die zudem auch noch breit genug ist, um sich beim Fahren deutlich gemütlicher wohl zu fühlen. Auch so ein Phänomen, das ich vermutlich niemals verstehen werde. Die Autos werden mit jeder Generation größer und breiter. Aber Parkplätze zeichnet man immer schmaler ein und auf vielen Straßen beseitigt man der Umwelt zuliebe (?) den Seitenstreifen direkt an der weißen Linie. Mag sein, dass ein tieferer Sinn dahinter steckt. Erschließen tut er sich mir nicht.
Lange drüber nachdenken konnte ich jedoch nicht, denn dann verließ ich die Niederlande schon wieder und befand mich auf den belgischen Straßen. Die zwar die Breite der holländischen, aber der Zustand der deutschen Autobahnen aufweisen. Immerhin im Mittelstreifen durchgängig beleuchtet. Wie war das gerade noch mit dem Umweltschutz? Hach, das darf man alles nicht so ernst nehmen. Die Deutschen übertreiben es in Anflügen noch aufkommender preußischer Ordnungswurt häufig zu sehr mit dem Umsetzen der europäischen Vorgaben. Gerade letztens unterhielt ich mich da mit einem sich vor Lachen kringelnden italienischen Kollegen über das brandaktuelle Thema der Datenschutzgrundverordnung.
Ach ja, die Preußen. Ist das eventuell die berühmte deutsche Kultur, nach der in letzter Zeit so häufig in den Medien gesucht wird? Die Fußball-WM hat das Hissen von Fahnen aktuell einmal mehr modern werden lassen. Gleich wieder ein Punkt, der mir ins Auge fiel und auf den ich in den kommenden Tagen noch weit häufiger aufmerksam wurde. In Belgien wird sehr viel beflaggt. Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Aufgrund der gleichen Farbkombination nur in falscher Reihenfolge und Ausrichtung fühlt man sich fast ein bisschen an Zuhause erinnert. Mit einem gravierenden Unterschied: in Belgien wird eigentlich niemals nur die belgische Flagge gehisst, sondern immer noch die Europäische direkt daneben. An verschiedenen Yachten in den Häfen begegnete mir am Heck der Schiffe mehrfach eine Kombination, die mich regelrecht bewegte: die europäische Flagge und nur oben im linken Eck die belgische als Hinweis auf die Herkunft in Europa. Ein deutsches Pendant habe ich nirgends entdecken können. Daher habe ich für das Titelbild dieses Blogeintrags selbst ein wenig gebastelt.
Was wird aus unserem Europa? Schaffen es die ganzen Schreihälse mit ihren Zerschlagungs-Parolen? Liegt die Zukunft der menschlichen Entwicklung wieder im Kleinklein der tiefsten Vergangenheit? Sollten Missgunst, Neid, Gier und Hass tatsächlich die tonangebenden Eigenschaften des zukünftigen Miteinanders sein? Sollte mein Traum tatsächlich platzen, der meine Tochter oder spätestens ihre Kinder in einer großen Terra Unique sah? Ist es wirklich wahrscheinlicher, dass ich noch zu meinen Lebzeiten zu einem Bürger des Fürstentums Frankfurt werde? Zugegeben zwei Extreme. Ich lasse mich anstecken von der ausschließlichen Betrachtung einzelner Polarisierungen. Ein Thema, das einen eigenen Blogeintrag wert ist.
In ein paar Wochen bekomme ich Besuch aus Frankreich. Der Verein der Freiwilligen Feuerwehr unterhält einen aktiven Kontakt zu der Feuerwehr der französischen Partnerstadt. Ich freue mich drauf. Ja, ich bin sogar ein bisschen stolz darauf, diesen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung leisten zu können. Aller sprachlichen Barrieren zum Trotz finden hier seit Jahrzehnten jedes Jahr Menschen zusammen, die sich gegenseitig bereichern. Denn letztendlich haben wir alle die gleichen Wünsche, die gleichen Sehnsüchte, die gleichen Träume. Zusammen könnten wir sie lösen, davon bin ich absolut überzeugt. Im Alleingang jedoch…?
Genug gegrübelt für heute. In De Haan wartet ein wunderschöner Sandstrand darauf, bewandert zu werden. Die wärmende Sonne auf der Haut. Das Rauschen des Meeres im Ohr. Zeit für angenehmere Gedanken. Ich will meer. 😉
Heute gibt es einen Urlaubsgruß von
Eurem Clark
Lieber Clark,
es ist immer wieder erstaunlich und bewundernswert, was in deinem Kopf so alles vor sich geht.
Aber, als Meister des „Gedanken auf Papier bringens“, wie schaffst du das alles so zu behalten, dass du es später aufschreiben kannst? Oder diktierst du bereits während der Fahrt?
Viele Grüße
Mathias
Danke Dir, Mathias!
Tatsächlich ist das „Behalten“ eine sehr große Herausforderung. Meistens schreibe ich mir auf dem Smartphone zwischendurch eine eMail mit ein paar Schlagworden an mich selbst, wenn mir gerade ein Geistesblitz durch den Kopf geht. Dieses etwas sperrige Vorgehen hat sich im Laufe der Zeit als die verlässlichste Vorgehensweise erwiesen, nachdem mich zahlreiche verwendete Notiz-Apps immer wieder genau dann im Stich gelassen haben, wenn ich sie spontan brauchte.
Die technischen Möglichkeiten zum Diktieren unterwegs wie auch am heimischen Schreibtisch habe ich mir längst zugelegt. Nur passt diese Art des Schreibens noch nicht ganz zu meinem Formulierungsprozess. Woher soll ich wissen, wie ich mich ausdrücken will, solange ich nicht sehe, wie der Text geschrieben aussieht?
Allerdings setze ich keinen Ghostwriter ein. Was zur Folge hat, dass ich ständig über ein Dutzend Texte gleichzeitig in Bearbeitung habe. Was wiederum zur Folge hat, dass nur ein verschwindend geringer Bruchteil davon es bis zur Veröffentlichungsreife schafft. An der Schreibtechnik werde ich also wohl insgesamt noch feilen müssen. Dabei rückt auch das Diktieren wieder mehr in den Focus. Mal schauen, was die Mitreisenden so sagen, wenn ich demnächst im Zug sitze und in mein Handy brabbele „…Punkt. Absatz. Absatz. Anführungszeichen oben. Text…“ 😉
Natürlich gehen mir auch sehr viele Stichpunkte unter. Aber bislang konnte ich immer weit mehr behalten, als ich später im fertigen Text auch wirklich angeschnitten habe. Allerdings stand ich letztens auch schon bei der Tankstelle und konnte mich beim Bezahlen partout nicht mehr an die PIN meiner EC-Karte erinnern. Am nächsten Morgen hatte ich sie wieder im Kopf, als sei sie nie vergessen gewesen. Sind das Alterserscheinungen? Nun, wenn mir das mit den niederzuschreibenden Gedanken auch passieren sollte, werden meine Texte etwas kürzer ausfallen. Das Risiko nehme ich in Kauf. 🙂
Viele Grüße auch Dir!
Clark