Wir sind das Volk! Wer ist wir?

„Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenig Leute damit beschäftigen.“
Henry Ford, genialer, wenngleich antisemitischer Großindustrieller

Hessen und Bayern hat gewählt. Bei manchen Wahlen in der Vergangenheit konnte man von einem Krimi sprechen. Am vergangenen Sonntag musste ich hier in Hessen jedoch eher an die Fußball-Bundesliga denken. Völlig egal, wer mitspielt, völlig egal, wie die Spiele laufen, Bayern wird Meister. Punkt.

Mir ist es schon ein bisschen ein Rätsel, was denn seitens der konservativen Parteien noch alles angestellt werden muss, damit die wahlberechtigen Menschen anfangen, zwischen den Rahmenbedingungen ihres Alltags und den durch ihre Wahl verursachten politischen Entscheidungen einen Zusammenhang zu sehen. Die Schulen sind in einem desaströsen Zustand, die Straßen und Brücken erleichtern die Entscheidung für den Kauf eines geländegängigen SUV, die medizinische Abdeckung wird immer dünner, der Wohnraum wird unbezahlbar und ist ungleich verteilt, es gibt tausend Punkte, bei denen die Entwicklung auf Landesebene seit Jahrzehnten kontinuierlich bergab geht. Aber das Wahlvolk lässt sich mit ein paar plumpen Sprüchen in den Wochen vor der Wahl ganz einfach um den Finger wickeln und setzt sein Kreuz auf dem blauen Zettel für ein klares „weiter so“.

Mein Frust bei der Betrachtung der Wahlergebnisse setzt jedoch schon weit früher ein. 66% Wahlbeteiligung hier in Hessen. Trotz all des Medienrummels und all der vielen Aufrufe zum Stellung beziehen und der ausgiebigen Aufklärungsarbeit auf allen Medien muss man feststellen, dass einem Drittel der Wahlberechtigten die zukünftige Entwicklung in diesem Bundesland und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit gleichzeitig auch auf Bundes- und Europa-Ebene schlichtweg am Arsch vorbeigeht. Menschen tun sich ja erfahrungsgemäß mit großen Zahlen schwer. Die werden abstrakt und finden daher selten Eingang ins Hirn. Brechen wir das Wahlergebnis daher doch mal auf ein eher nachvollziehbares Bild herunter.

Vor uns steht ein Grüppchen aus zehn Personen, die gefragt werden, was sie gerade von der politischen Situation halten. Drei davon drehen sich daraufhin kommentarlos rum und gehen weg. Von den stehen gebliebenen Personen sind weitere drei fest der Meinung und einer liebäugelt damit, dass alles absolut perfekt so ist, wie es ist und man bitteschön überhaupt nichts daran ändern sollte (CDU 34,6%, Grüne 14,8%, zusammen fast 50%). Eine Person sieht zwar Handlungsbedarf, will aber Veränderungen nur dann zustimmen, wenn sie ausnahmslos nur andere betrifft und man sich selbst kein bisschen verändern muss (SPD 15,1%, FDP 5,0%). Und zwei Personen sind restlos davon überzeugt und machen damit den zuvor erwähnten Wankelmütigen auch noch ganz wuschig, dass dringend die Spaltung der Gesellschaft weiter vorangetrieben werden muss. Alle Probleme lösen sich automatisch in Luft auf, wenn man nur erst einmal einen Schuldigen definiert hat. Grundsätzlich dagegen sein, ohne eine eigene Idee für eine Lösung vorzubringen, ist vollkommen ausreichend als politische Marschrichtung in ein neues deutsches Reich, in dem wieder Zucht und Ordnung herrscht (AfD 18,4%, FW 3,5%).

Menschen wie ich stehen jetzt etwas ratlos dieser Gruppe gegenüber und suchen nach den Spurenelementen von Vernunft, die es ja irgendwo in den Hinterköpfen einzelner ganz leise auch noch zu geben scheint (Linke 3,1%, Volt 1,0 %, alle anderen 4,5%). Doch so sehr ich auch nachdenke, es will mir keine Vorstellung in den Sinn kommen, die ich als „rosige Zukunft“ bezeichnen würde. Quo vadis, Germania?

Im kommenden Jahr 2024 stehen in den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern die nächsten Landtagswahlen an. Neben Brandenburg vor allem in den beiden AfD-Hochburgen Sachsen und Thüringen. Man braucht kein sonderlich fähiger Wahlforscher zu sein, um die zu erwartenden Wahlergebnisse vorherzusagen. Nachdem damit dann weit verbreitet ein ordentlicher Druck von dieser populistischen Seite aufgebaut wurde, kann man sich an fünf Fingern abzählen, dass bei der Bundestagswahl nochmal ein Jahr später im Herbst 2025 die ohnehin ziemlich brüchige „Brandmauer“ schlichtweg pulverisiert wird. Deutschland wird damit den vielen anderen europäischen Ländern auf dem strammen Kurs nach Rechts folgen. Was bedeutet das für die Europäische Union? Man kann mit ziemlicher Sicherheit unterstellen, dass auch diese dabei stückweise zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zurück gebaut wird. Wir blättern im Geschichtsbuch rückwärts.

Und all das, während ich in meiner Heimatregion in Südhessen an dem Rinnsal entlang radele, was früher einmal der mächtige Rhein gewesen ist. Während ich Menschen beobachte, die Mitte Oktober im T-Shirt und kurzer Hose draußen picknicken. Während ich in meinem Provinzörtchen fünf Minuten an der Hauptstraße stehe, bis ich in den nicht enden wollenden Blechlawinen eine Lücke finde, um als Fußgänger halbwegs gefahrlos die Straßenseite wechseln zu können. Während ich auf dem Weg zu meinen Frankfurter Kunden in der zentralsten Innenstadt an einem Bild der Verwahrlosung aus Obdachlosen und Drogenjunkies vorbeilaufe. Während ich mich mit der Kellnerin in einer der letzten noch nicht aufgegebenen Gaststätte unterhalte, die nach Feierabend noch bis in die Nacht jobben muss, um sich ein Auto zu leisten, mit dem sie aus einer entfernten Nachbarstadt zum Arbeitsplatz pendeln kann, da sie sich hier im Ort bei den Mieten keine Wohnung leisten kann. Während ich meiner Tochter zuhöre, die über die zahllosen Unterrichtsausfälle berichtet, die sie in ihrer Schulzeit durchleben musste. Während ich bei meiner Arztpraxis vom Anrufbeantworter aufgeklärt werde, dass mangels Personal der nächste Termin für mich erst in einem Vierteljahr frei ist.

Wir haben so unsagbar viele Baustellen. Und alles, was den Menschen dazu einfällt, ist Populismus? Hat das Einsparen der Schulbildung im Laufe der Zeit tatsächlich eine solch verheerende Auswirkung? Mit dem Rauchen aufzuhören, tritt Entzugserscheinungen los. Körpergewicht abnehmen bringt Hungern mit sich. Fitness aufbauen setzt Schweißverlust voraus. Aber ein Umbau der Gesellschaft hin zu etwas Zukunftsfähigen, etwas Überlebensfähigen soll ganz smooth und ohne irgendwelche spürbaren Auswirkungen erfolgen? Wenn der Ausspruch nicht durch die Schwurblergemeinde so ins Lächerliche gezogen worden wäre, würde ich hier am liebsten laut aufschreien: Leute, wacht auf!

Moctezuma, der berühmte Aztekenherrscher, gilt als Sinnbild für das Verhalten vieler Herrscher auch im europäischen Mittelalter. Wenn ein Bote mit einer schlechten Nachricht über ein herannahendes Heer oder ein anderes Unglück auftauchte, wurde er kurzerhand einfach geköpft. Schon war das lästige Problem gelöst und die Welt wieder in Ordnung. Die Menschen heute wünschen sich eine Regierung, die genauso rigoros mit den ganzen Unheilsverkündern aus Wissenschaft und Forschung umgeht. Fakten spielen dabei keinerlei Rolle mehr, das sieht man ja jeden Tag aufs Neue in den Nachrichten.

Wie nur bringt man die Menschen rechtzeitig dazu, sich vielleicht doch nochmal darüber zu erkundigen, was die Spanier damals mit den Azteken angestellt haben? Sollte es wirklich nur den einen einzigen, der Volksweisheit schon seit jeher bekannten Weg geben: Aus Erfahrung wird man klug?

Ziemlich zukunftsbange Grüße

Euer Clark

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