Apathie des Niederganges

„Zu viele Leute geben Geld aus, das sie nicht verdient haben, um Dinge zu kaufen, die sie nicht wollen, um Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen.“
Will Rogers, US-amerikanischer Entertainer

Nachdem ich eine sehr lange Phase des nahezu ununterbrochenen Arbeitens von zuhause erleben konnte, waren die vergangenen Monate dicht gefüllt von Anlässen, die mich „nach draußen“ zwangen. Dabei handelte es sich nicht nur um das, was man im umgangssprachlichen Sinn unter ‚Arbeit‘ versteht, sprich, dieses der Prostitution eigentlich sehr nahe kommende Verkaufen von Lebenszeit gegen Geld. Nein, Mutter Natur ist gerade auch der Meinung, in meinem persönlichen Umfeld die Reihen etwas lichten zu müssen. Und wenn man sich dann an Gräbern von Über-80-Jährigen stehend neben längst schon erwachsen gewordenen Enkeln mit ihren voller Tatendrang strotzenden Lebensgefährten wiederfindet, fängt man an, intensiver über das eigene Altwerden nachzudenken

Auf jeden Fall war ich in den letzten Wochen viel unterwegs. Und habe dabei sehr viele neue graue Haare bekommen. Ist das vielleicht auch ein Zeichen des Altwerdens? Nein, ich meine nicht die grauen Haare; dafür bzw. dagegen gibt es in der Drogerie Mittel zum Färben. Ich meine die Gründe für das durch Ärgern provozierte vorzeitige Erschöpfen des Geistes. War ich nicht auch einmal solch ein Jüngling mit neugierigen Erwartungen ans Leben? Womit habe ich ebendieses dann gefüllt? Bin ich zufrieden mit mir und meinem Schaffen? Während meine Hände die Asche eines bis vor kurzem noch sehr lebensfrohen Menschen aus der Urne über eine Wiese schütten, fängt mein Geist an, sich in philosophischen Gedanken zu verlieren.

Über den vergangenen Jahreswechsel habe ich die Vorzüge des reinen Remote-Arbeitens dazu genutzt, mich mitsamt drei Notebooks, zwei Bildschirmen und einem Schreibtisch für zwei Monate zum Überwintern nach Spanien abzusetzen. Da ich mir viel zu viel Arbeit für diese Zeit eingepackt hatte, wurde es eine enorm anstrengende Zeit, die ich da außerhalb der belebten Ballungsgebiete einsam in meiner Casita vorm Rechner saß. Aber trotz der überlangen Arbeitstage hat es mir unter den Hispañolas dermaßen gut gefallen, dass ich dergleichen Arbeit aus der Ferne unbedingt wiederholen möchte.

Doch um nicht noch einmal beim Einkaufen völlig hilflos rumstammeln zu müssen, habe ich mir für dieses „nächste Mal“ vorgenommen, ein paar spanische Vokabeln zu lernen. Doch mit meinem als Buchhalter ohnehin eher strukturiert-mathematisch als denn sprachtalentiert-kreativ ausgerichteten Hirn fällt mir das Erlernen einer Fremdsprache grundsätzlich schon schwer. Dass ich in meinem Oberstübchen auch noch ständig ohne gewerkschaftlich festgelegten Feierabend haufenweise Aufgaben für meine Kunden zu lösen versuche, fördert das für solche Lernvorhaben erforderliche Potential auch nicht wirklich.

So kommt es, dass ich nach vielen Wochen der arbeitsmäßigen Überauslastung bündig einen neuen Grund hatte, gewisse Dinge um mich herum einfach auszublenden, um die Energie für Nebenvorhaben zusammenzubringen. Vor allen Dingen habe ich hierbei meinen Nachrichtenkonsum auf ein absolutes Minimum heruntergefahren. Wie in der Vergangenheit schon so oft stellte ich dabei fest, dass solch ein Schlagzeilen-Fasten echter Balsam für die Nerven sein kann. Nur in den stillen Momenten der Quasi-Meditation erklang die leise Stimme des Gewissens, die mir vorhielt, dass genau dieses inzwischen kulturübergreifend etablierte egoistische Verhalten des Ignorierens eine der Ursachen für den Zerfall jeglicher gesellschaftlicher Werte darstellt. ‚Was interessiert es mich denn, was in der Welt passiert, solange es mir selbst gut geht?‘ Mir will es nicht gelingen, mir diesen Ausdruck des Zeitgeistes zu eigen zu machen.

Aus solchen Impulsen heraus rief ich dann doch von Zeit zu Zeit eine Nachrichtenseite im Internet auf, statt in die Vokabellern-App zu starren. Und klicke auf eins der mir vom Algorithmus weiterhin vorgeschlagenen Informations-Videos auf YouTube, statt der Seite meiner Spanisch-Lehrerin zu folgen. Und, Spoiler, ich habe es jedes einzelne Mal bereut. Was zum Kuckuck ist denn in der Welt gerade los? Und warum tut denn keiner etwas gegen diese Entwicklung?

Genau dieses „keiner tut etwas“ spukte immer wieder als Gedankenfetzen in meinem Kopf herum. Denn es ist ja keineswegs so, als ob nichts getan wird. Ganz im Gegenteil, es passiert vielleicht sogar viel zu viel auf einmal. Nur offensichtlich das vollkommen Falsche. Und mit einem Gemisch aus zwar lautstarkem, doch völlig tatenlosem Geifern auf der einen Seite und schon an Apathie grenzender Gleichgültigkeit auf der anderen Seite sind wir in einer Situation angekommen, die man im alten Rom unter „Brot und Spiele“ zusammengefasst hat. Je mehr Blut bei den Spielen fließt, umso besser.

Als ich Ende des vergangenen Jahrtausends in meinen aktuellen Wohnort zog und im Vorstand eines Vereins aktiv wurde, galt für die veranstalteten Festivitäten die klare Regel, dass bei allen Metzgern und Bäckern gleichmäßig bestellt werden muss. Das artete damals sehr häufig in Diskussionen aus, weil der eine Metzger machte die besseren Steaks und beim anderen waren die Bratwürste unterdurchschnittlich klein, dafür packte er als Geschenk immer noch einige Ringe seiner leckeren Fleischwurst für die Vereinsmitglieder drauf. Bei wem bestellt man was und wie viel, damit auch alle Gewerbebetriebe gleichmäßig mit Umsatz beglück werden, war immer wieder eine Herausforderung.

Freie Metzger gibt es schon seit vielen Jahren in Gernsheim keine mehr. Nur noch die Großketten in den Supermärkten. Und Anfang diesen Jahres ist nun auch noch der letzte Bäcker in Insolvenz gegangen. Der vorher den verzweifelten Versuch unternahm, durch Aufkaufen aller umliegenden Bäckereien selbst zu einer Art kleiner Backkette zu werden. Dabei jedoch nur bei ständigem Erhöhen der schon vorher im Vergleich zu Supermärkten hohen Preise auch noch die Qualität der Produkte zu Gunsten der Massenproduktion immer weiter absenkte. Dem Zerfall des kurzzeitig geschaffenen kleinen Firmenimperiums konnte man wie im Bilderbuch zuschauen.

Nun haben wir also in dem 10.000-Einwohner-Ort keinen Bäcker und keinen Metzger mehr, wenn man nicht gerade in den Discounterketten an die Fleisch- und Backtheke geht. Stört es irgendjemanden? Alle motzen, inklusive mir. Aber Aktionismus irgendeiner Art? Fehlanzeige, auch bei mir.

Bei einer der Fahrten auf der Autobahn habe ich mich letztens furchtbar aufgeregt. Nach einem sehr langen und sehr anstrengenden Tag fuhren wir um viertel vor neun am Abend zum zweiten Laden unseres Elektroautos auf die Raststätte Heiligenroth an der A3. Wie auch schon beim ersten Ladestopp mussten wir nach der einzelnen Ladesäule in einer stockdunklen Ecke des Parkplatzes zwischen Müll und anderen Hinterlassenschaften menschlicher Umweltignoranz suchen. Unser Stoßgebet im Vorfeld wurde wenigstens erhört und die Ladesäule funktionierte. Auch eher die Ausnahme, als die Regel. Warum kriegen die Franzosen und die Spanier es hin, taghell erleuchtete, riesige Ladeparks auf blitzsauberen Raststätten zu bauen, während die Elektromobilität in Deutschland dem Besuch auf einem Bahnhofsklo gleichkommt? Ach ja, die Verbrenner-Lobby. Ich rege mich wieder mal auf. Genauso, wie die vier oder fünf anderen Elektroautos, die während unseres Ladevorganges angefahren kamen. Und voller Frust aufgrund des bereits belegten Anschlusses wieder weitergefahren sind. Wenn man die Verbreitung einer neuen Technologie verhindern will, muss man schon etwas dafür tun.

Selbst mit dem Schnellladeanschluss dauert der Ladevorgang eine knappe Stunde. Zeit genug, um in der Raststätte einen Burger zu essen. Das würden die etwa tausend Truckerfahrer, die verzweifelt um die letzten Quadratmeter dieser Raststätte konkurrieren, sicherlich auch gerne. Aber nur noch ein einsamer müder Mensch hält sich hinter der Kasse des überteuerten Shop-Bereichs aufrecht. Alles andere ist geschlossen. Die Anzeigetafel teilt mir mit: Öffnungszeiten von 07:00 bis 19:30 Uhr. Ein Burger King auf einer der verkehrsmäßigen Hauptschlagadern Deutschlands an einer riesigen Lkw-Parkplatz-Raststätte hat nicht einmal so lange offen, wie ein Supermarkt in einer mittelgroßen Stadt? Da ist sie wieder, die uralte Frage nach Henne und Ei. Lohnt sich der Betrieb nicht, weil zu wenig Umsatz? Oder macht man zu wenig Umsatz, weil die Öffnungszeiten der Kundschaft den Zugang verwehren? Aber überhaupt, hier stehen jede Nacht zig hunderte Lkws, deren Fahrer kein ausreichend hohes Einkommen haben, um sich ein 20€-Menü in einer Fastfood-Bude holen zu können. Warum kann hier nicht einfach irgendwer eine Kneipe im alten Stil aufmachen? Eine Suppe, einen Salat, ein Schnitzel, vielleicht noch eine Bockwurst im Essensangebot. Winzige Auswahl, dafür für 6€ pappsatt. Ach, ich vergaß, die Raststätten sind ja fest in monopolistischer Hand des Tank&Rast-Konzerns. Die lassen keine Konkurrenz zu. Warum auch? Es beschwert sich ja keiner. Die Lämmer machen das Spiel ja leise murrend einfach mit.

Einmal pro Woche muss ich aktuell noch nach Frankfurt zum Kunden fahren. Der Kunde sitzt direkt in der Nähe des Hauptbahnhofs, also eigentlich ein Kinderspiel, von Gernsheim aus mit der Bahn hinzukommen. Wenn sie denn mal fährt. Letzten Donnerstag habe ich zuhause noch einen Blick auf die Angaben in der App geworfen. 08:06 Uhr Abfahrt. Nur eine Minute Verspätung. Okay, ich muss wohl ein bisschen rennen, um das pünktlich zu schaffen. Ist man von der Bahn ja gar nicht mehr gewohnt, daher war ich ungeschickterweise in den Trödelmodus verfallen. Also im Schweinsgalopp durch den Nieselregen zum Bahnhof. Dort die Treppe zum Bahnsteig hoch, wo ich auf der Anzeige lese „5 Minuten Verspätung“. Okay, hätte ich doch langsam laufen können. Nass geschwitzt stehe ich frierend mit den anderen Menschen am zugigen Gleis und warte. Nach knapp zehn Minuten kommt eine Durchsage „Vorsicht am Bahnsteig, ein Zug fährt durch“. Irgendjemand hinter mir murmelt „na, ich hoffe, er fährt nicht durch, sondern hält an“. Aber seine Hoffnung wird nicht erfüllt. Mit Getöse rauscht kurz drauf ein ICE an uns vorbei und hüllt uns in einen Nebel aus kaltem Sprühwasser. Ein Blick in die App auf dem Smartphone zeigt, der ersehnte Regional-Express nach Frankfurt soll nun um 08:18 Uhr ankommen. Auf der Anzeige des Bahnhofs wird er gar nicht mehr erwähnt. Irgendeine Ansage aus den Lautsprechern spart sich die Deutsche Bahn ebenfalls mal wieder völlig. Wozu denn diese lästigen Quälgeister namens Kunden irgendwie mit so etwas aufwändigem wie Service bedienen. Die kommen doch eh immer wieder, egal, wie man sie behandelt. Es wird 08:20, es wird 08:22. Ich hole mit inzwischen ziemlich steif gefrorenen Fingern das Handy aus der Tasche und werfe einen neuerlichen Blick auf die App. 08:32 Uhr soll der RE nun fahren, steht da geschrieben. Also fast eine halbe Stunde Verspätung. Der erfahrene Bahnreisende weiß, dass der Zug bei so großer Verspätung nicht mehr bis Frankfurt durchfahren wird, sondern irgendwo auf halber Strecke ein Umsteigen in eine S-Bahn oder den nachfolgenden RE angeordnet wird, damit der Fahrplantakt wieder hergestellt werden kann. Also erneutes Warten irgendwo in der Kälte und im Regen. Synchron mit über zehn anderen Menschen zücke ich mein Handy und rufe meinen Kunden an. Während wir gemeinsam die Treppe vom Bahnsteig runter gehen, informieren wir unsere Arbeitgeber und Kunden darüber, dass heute ein unplanmäßiger Homeoffice-Tag anstehen wird. Einmal mehr kommt in mir die Überzeugung auf, dass das für die Bahn zuständige Verkehrsministerium den Auftrag hat, die Menschen nach Möglichkeit zum Autofahren zu drängen. Und ich muss sagen, die machen ihren Job wirklich gut. Wenn das Deutschlandticket in Bälde etwas teurer werden sollte, ist vielleicht das Anmieten eines Parkplatzes in Frankfurt die günstigere Lösung.

Aber Autofahren auf deutschen Autobahnen war es ja eigentlich, was mich zum Titel dieses Blogeintrages brachte. Ich bin ziemlich sicher, dass die meisten Menschen, die viel mit dem Auto unterwegs sind, dieses Gefühl kennen. Man bricht zuhause auf und hat eine ungefähre Vorstellung im Sinn, wie lange man unterwegs sein wird. Vielleicht hat man am Zielort sogar einen Termin, den man halten muss. Oder eine Verabredung, auf die man sich freut. Also fährt man auf die Autobahn auf… und steht im Stau. Auch so eine Erkenntnis, zu der man durch simple Beobachtung überall kommen kann: eine echte, solide deutsche Baustelle ist etwas für die Ewigkeit. Niemand hat die Absicht, jemals mit einer Baustelle fertig zu werden; um ein bekanntes Zitat über ein anderes, damals durchaus recht zügig fertiggestelltes Bauprojekt ein bisschen zu verfälschen. So sitzt man also hinterm Steuer und regt sich auf. Man flucht. Man versucht durch Spurwechseln einen Meter schneller vorwärts zu kommen. Man schreit den Fahrer im Auto daneben an, weil der die Rettungsgassenregel nicht einhält. Man kocht vor Zorn und würde am liebsten irgendeinen Bauarbeiter zusammenkacken. Aber die gibt es ja auf den allermeisten Baustellen überhaupt gar nicht erst. Irgendwann jedoch kehrt selbst beim schlimmsten Choleriker eine gewisse Form von geistigem Frieden ein. Die Energiereserven sind durch den hohen Puls verbraucht. Man sinkt hinterm Steuer zusammen und starrt nur noch leer in die Gegend. Wenn die roten Bremslichter des Vordermannes ausgehen, legt man den Gang ein und rollt zwei Meter weiter, ohne noch irgendwelche eigenen Gefühle oder Regungen an den Tag zu legen. Man fügt sich in sein Schicksal der totalen Verspätung und der nutzlos verschwendeten Lebenszeit. Selbst Aufregen ist nutzlos geworden. Staustehen wird ein Stück Lebensbestandteil, wie aufs Klo gehen oder zum Schlafen hinlegen. Ist halt so.

Genau diese Melancholie ist es, die ich irgendwie aktuell in unserer Gesellschaft allerorten erkennen kann. Ja, auch bei mir selbst. Man erschöpft sich im Aufregen, aber um etwas zu ändern fehlt es dann doch an Energie.

Wenn Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher sich über die Deutsche Bahn aufregen, wird hier und da aus irgendeinem Haushaltstopf mal ein Notgroschen ins behelfsmäßige Beiflicken der zu Tode gesparten Infrastruktur gesteckt und der Bevölkerung das Ganze dann mit viel Werbung als heilbringende Kernsanierung verkauft. Dass von dem Groschen, was mal die Bezeichnung fürs 10-Pfennig-Stück war, sechs Pfennige in die Tasche von Beratern und Lobbyisten fließen, ohne dass auch nur ein Gleis repariert wurde, lässt sich mit gutem Marketing auch hervorragend vertuschen. Gilt ja für die meisten Großprojekte in Staatshand. Was ist eigentlich aus den 100 Milliarden ‚Sondervermögen‘ für die Bundeswehr geworden? Kam da inzwischen mehr als die Beschaffung eines einzelnen neuen Mannschaftstransportwagens raus?

Ach, Aufregen macht müde. Vielleicht sollte ich doch einfach besser das Anklicken der Nachrichten sein lassen und mich mit Katzenvideos und Spanisch-Vokabeln beschäftigen. Ist Resignieren eine Lösung? Lustig, dass mir gerade heute wieder der im Titelbild eingebaute Spruch in den Social Media beim Scrollen angezeigt wurde. Wenn immer wieder aus wohlerzogenem Verhalten der Klügere nachgibt, haben irgendwann nur noch die Vollpfosten das Ruder in der Hand. Melancholie ist in der Auswirkung durchaus mit Nachgeben gleichzusetzen. Ist das die Richtung, in die sich eine Wohlstandsgesellschaft zu entwickeln hat?

Am Ende eines jeden Staus geht die Fahrt weiter. Irgendwann kommt man am Zielort an. Meistens vergisst man bis dahin das lästige Erlebnis des gedanklichen Durchhängens. Nun, vielleicht ist es an der Zeit, ein bisschen daran zu erinnern.

Rebellische Grüße

Euer Clark

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