Der Boom und die wilden 68er

„Die Weltordnung ist Veränderung! Das Leben ist nur persönliche Wahrnehmung.“
Demokrit von Abdera, griechischer Philosoph

Da war einmal eine Epoche von ungefähr Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bis gegen Ende der 70er Jahre, also beginnend mit der Flower-Power-Zeit und ihren Ausklang findend mit Songs wie „Sex, Drugs and Rock’n Roll“. Eine Epoche, in der nicht nur eine spürbare Aufbruchstimmung durch die Welt zog, sondern auch der Nachweis geschaffen wurde, dass das wirkungsvollste Verhütungsmittel den Namen „Wohlstand“ trägt.

Wenn ich nach meinem Geburtstag gefragt werde, verweise ich gerne auf ein Lied, mit dem sich Bryan Adams in der Musikszene verewigt hat: „The Summer of ’69“. Ich bin also eine Adventsproduktion des Jahres 1968. Das Jahr, in dem die USA an Weihnachten erstmals mit Apollo 8 den Mond erreichten, nur leider den Triumph noch nicht ganz auskosten konnten, da die erforderliche Landefähre erst im folgenden Jahr fertiggestellt wurde. Eine Zeit auf jeden Fall, in der schlichtweg alles möglich schien und kein Ziel zu hoch gesteckt war.

Ich bin somit ein direkt bündiger Nachfahre jener Jahrgänge, die man heutzutage „Boomer“ nennt. Ein Fakt, dessen ich mir irgendwie erst viel später im Leben wirklich bewusst wurde. Und der mich heute dazu bringt, auf die Zeit vor meiner Geburt zurück zu blicken.

Dass sich aus diesem Sprung im Bevölkerungszuwachs im Laufe der Zeit auch ein Problem entwickeln könnte, wurde bereits recht früh erkannt. In Deutschland steckte man noch immer tief in den Wiederaufbauleistungen nach dem zweiten Weltkrieg. Aber Dank Marshalplan, ungebremstem Wirtschaftswachstum und der positiven Entwicklung aus dem EU-Vorgänger EWG waren alle Sorgen so weit weg, dass die mahnenden Stimmen ausgeblendet wurden.

Es war die Zeit, in der sich die ersten Umweltverbände formierten und, wie wir heute wissen, schon ziemlich punktgenau die massiven Folgen des menschlichen Eingriffs in die Natur anprangerten. Es war die Zeit, in der man die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des gerade erst in Mode gekommenen Materials „Plastik“ erkannte und es in unvorstellbaren Mengen zu produzieren begann, ohne auch nur einen Hauch von Gedanken daran zu verschwenden, was denn aus dem daraus entstehenden, unverrottbaren Müll später einmal werden soll. Es war die Zeit, in der viele Stimmen davor warnten, dass das gerade neu aufgestellte Rentenmodell im Falle eines späteren Schrumpfens nachkommender Generationen, spätestens jedoch im Zusammenhang mit einer eventuellen wirtschaftlichen Rezession, absolut nicht zukunftsfähig sein wird.

Aber all diese mahnenden Stimmen wurden überhört. Die ganze Welt wollte nur noch vorwärts, noch größer, noch besser, noch luxuriöser werden. Endlich Wohlstand für alle. Und das dazu noch rasend schnell. Nicht „für die Kinder“, wie man es im Laufe der Menschheitsgeschichte eigentlich immer argumentiert hatte, sondern „für sich selbst“. Und darüber hinaus auch nicht „für die Altentage“, nein, jetzt, sofort, auf der Stelle.

Die Boomer waren die erste Generation, die in dieser Aufbruchstimmung aufgewachsen ist. Sorgenfrei, im Wohlstand. Klar, vieles lief noch nicht rund. Probleme gab es noch genug zu bewältigen. Die Zeiten waren sicherlich auch nicht nur rosarot. Aber doch gemessen an den vorangegangenen Epochen handelte es sich um einen Meilenstein an Entwicklung zu einem fühlbar besseren Leben für jedermann.

Dass sich in solch einer Zeit das erzkonservative Bedürfnis entwickelt, diesen Zustand unbedingt festhalten zu wollen, ist verständlich. Die Elterngeneration gab den Boomern diesen Erhaltenswunsch mit auf den Weg. Im Laufe der Zeit wurden die Boomer selbst zu Eltern. Ihnen folgte inzwischen eine Generation, für die Frieden, Wohlstand und unbegrenzter Konsum eine Selbstverständlichkeit geworden ist, die vermeintlich gar nicht mehr in Frage gestellt werden muss.

Immer wieder gab es Gruppierungen, die mit dem erhobenen Zeigefinger darauf hinwiesen, dass dieser Zustand nicht auf ewig haltbar sein wird. Manche Gruppen taten sich auch zusammen und wurden zu Parteien. Aber wer nahm denn beispielsweise bei deren Gründung im Jahre 1980 die Grünen wirklich ernst? ‚Ein paar jugendliche Spinner, die denken sie würden die Welt verstehen.‘ Das war doch der allgegenwärtige Grundkonsens. Es sollte dann auch 40 Jahre dauern, bis diese Partei im größeren Stil Gehör findet. Wenn man sich die Geschichte jedoch genauer betrachtet, geschah dies aber auch nur, nachdem sie in weiten Bereichen eingeschliffen wurde und sich dem inzwischen festgesetzten Denken angepasst hatte.

All solche Gedanken gingen mir letztens durch den Kopf, als ich auf Facebook den Kommentar eines Tauchkameraden zu einem Sharepic las, in welchem der Vorwurf formuliert wurde, die Probleme unserer Zeit würden nur daraus resultieren, dass die Politik derzeit von Boomern ausnahmslos für Boomer gemacht wird. Mein Buddy widersprach dem vehement und drückte ziemlich deutlich seinen Unmut darüber hinaus, einfach alles den Boomern in die Schuhe zu schieben, zu denen er sich selbst ja ebenfalls zählt.

Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war der an den berühmten Spruch mit den getroffenen Hunden, die anfangen zu bellen. Beim Hineinhorchen in mich selbst musste ich jedoch feststellen, dass auch ich mich irgendwie durch das Sharepic bewegt fühlte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass zentrale Bestandteile der aktuellen Politik von Menschen aus einer Generation zu verantworten sind, die diesen Boomer-Jahrgängen entsprangen. Es ist unbestreitbar der Fall, dass sich die politische Ausrichtung daran orientiert, wie man bei der nächsten Wahl die Kreuzchen an die richtige Stelle lockt. Und ein mit großem Abstand erhebliches Wählerpotenzial bieten nun eben auch wieder genau diese Boomer-Jahrgänge.

Der Kabarettist Nico Semsrott, damals noch aktiv in der Partei „Die PARTEI“, machte im Zuge der Europawahl 2019 einmal den satirischen Vorschlag, man möge das Wahlalter doch nicht nur von unten, sondern auch nach oben begrenzen. Also nicht nur „wählen ab 18″, sondern auch “ wählen bis 75″. Einfache Begründung hinter dem Vorschlag: vieles von dem, was auf Basis der Wahl solch älterer Mitbürger später umgesetzt wird, erleben sie selbst gar nicht mehr, sondern müssen die Jüngeren ausbaden.

Klar, es handelt sich um Satire. Jedoch im Zusammenhang mit der Tatsache der Babyboomer-Jahre und dem statistisch eklatant nachweisbaren Bevölkerungsrückgang im Anschluss daran, sorgt die politische Wahlmöglichkeit bis ins hohe Alter tatsächlich für eine enorme Verschiebung des Wahlausgangs. Es ist schlichtweg nicht zu leugnen, dass die Generation der Babyboomer einen erheblichen Einfluss auf das zukünftige Wohl und Wehe der heutigen Teenager hat.

Gerade im Bereich des Umweltschutzes sowie aller Maßnahmen zur Eingrenzung der Folgen des Klimawandels wurden im Laufe der beiden 16-Jahres-Blöcke der konservativen Regierung alle Register gezogen, um zukunftsfähige Veränderungen zu blockieren. Die sieben Jahre rot-grüner Unterbrechung dieser beiden Großblöcke haben in der Beziehung leider auch keinen nennenswerten Fußabdruck hinterlassen. Hier ist das Erbe aus Dingen, wie beispielsweise der Agenda 2010 wohl eher noch als Treiber eines weiteren heutigen Problems zu sehen, des wachsenden sozialen Ungleichgewichts.

Das jetzt gerade aktuell das Bundesverfassungsgericht mit dem Kippen des Klimaschutzgesetzes tatsächlich eine Entscheidung zugunsten der zukünftigen Generationen trifft, ist wahrlich eine sensationelle Neuheit. Wurde interessanterweise in den Medien aber wieder einmal nur als Randnotiz in den Fußnoten erwähnt. Denn die Entscheidung passt ja sogar nicht in die einfach nicht weg zu kriegende Denkweise des totalen Bestandserhaltes.

Meine Maus schwebte eigentlich über dem Like-Button, um den Text meines Tauchbuddys zu bestätigen. Ich zog sie jedoch wieder weg, ohne geklickt zu haben. Stattdessen beschäftigte mich dieses Thema jetzt doch mehrere Tage lang. Grundsätzlich ist es genauso unsinnig, pauschal „den Boomern“ irgendeine Absicht zu unterstellen, wie es unmöglich ist, „den Deutschen“ als immer wiederkehrenden Kriegstreiber darzustellen.

Nichtsdestotrotz geht aus beiden eben genannten Beispielen eine gewisse Verantwortung hervor. „Die Deutschen“ sollten im Kollektiv aufgrund ihrer eigenen Geschichte und Erfahrung alles dran setzen, den internationalen Frieden zu wahren. Die fortschreitende Rechtsdrift der Gesellschaft sollte uns mahnen, hieran immer wieder zu denken. Ebenso sollten „die Boomer“ und deren Nachkommen die Verantwortung für die Entwicklung vergangener Jahrzehnte übernehmen und ihre Handlungen zukünftig an den Bedürfnissen derer ausrichten, die nach ihnen kommen. Auch wenn das bedeutet, hier und da den Gürtel enger zu schnallen.

Nach jeder Party folgt irgendwann der Zeitpunkt, zu dem man mit dem Aufräumen und Spülen anfangen muss. Es gibt immer diejenigen, die sich rechtzeitig aus dem Staub machen, um hier nicht Gefahr zu laufen, mitwirken zu müssen. Aber glücklicherweise finden sich auch immer ein paar andere, die bereit sind, die Bude wieder in einen Zustand zu versetzen, in der die Bewohner weiter leben können. Jeder muss sich selbst die Frage stellen, zu welcher Gruppe er gehören möchte.

Putzlappenschwingende Grüße

Euer Clark

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