Ignoranz des Alters

„Das Alter zieht noch mehr Runzeln in unseren Verstand als in unser Antlitz.“
Michel de Montaigne, französischer Jurist

Nach Tagen der Hitze ist es heute endlich etwas kühler. Ich liege in meinem Wohnwagen und erinnere mich an die vergangenen beiden Tage, an denen meine Arbeitsleistung extrem in die Knie gegangen ist, da mir die hohen Temperaturen so zugesetzt hatten. Nachts kein vernünftiger Schlaf mehr und dann tagsüber ständig am Gähnen und nicht konzentrieren können, weil die Gedanken fließen wie Brei. Zehn vor sieben, lässt mich ein Blick aufs Handy wissen. Die Sonne ist längst aufgegangen, die Vögel überbieten sich beim Zwitschern. Ich ziehe mir meine Decke nochmal bis zum Kinn hoch und kuschele mich für die letzten 25 Minuten bis zum Klingeln des Weckers ins Kissen.

Doch statt der knappen halben Stunde sind mir kaum fünf Minuten gegönnt, da fangen die Zelter auf dem Platz neben meinem an, sich lautstark zu unterhalten. Drei ältere Herrschaften, die mit dem Fahrrad unterwegs sind. Und ganz offensichtlich zu der Sorte Menschen gehören, die man „Lerchen“ nennt. Mit einem Seufzen ziehe ich mir mein Kissen weiter über den Kopf, um den störenden Lärm auszublenden. Aber es hilft nichts. Die Worte überbrücken die gut 20 Meter vom Nachbarplatz, durchdringen das geschlossene Wohnwagenfenster sowie mein Kissen und erreichen kristallklar verständlich mein Trommelfell.

Vermutlich sind die drei ergrauten Herrschaften bereits in einem Alter angekommen, in dem das Gehör nicht mehr ganz so gut funktioniert, weswegen sie zur Kommunikation die Stimme etwas mehr erheben müssen. Vielleicht ist es ihnen auch einfach nur scheißegal, wenn der ganze Globus mithört, während sie ihren Früh-Morgens-Plausch abhalten.

Auf den beiden Stellplätzen neben meinem Wohnwagen campen in den Sommermonaten nahezu täglich irgendwelche Durchreisenden. Es ist wahrlich nicht so, als ob ich nicht schon mitbekommen hätte, wie man sich da auch unterhalten könnte. Da campen manchmal Gruppen von acht Teenagern, die es fertig bringen, mit leisem Gemurmel und ein bisschen Gelächter ihre Zelte abzubauen und auf die Fahrräder zu schnallen. Ja, es gibt sogar Camper, die ihren Womo beladen und wegfahren, ohne dass ich davon wach werde. Doch es gibt eben auch diese Anderen.

Aber nicht nur die überflüssige Lautstärke, in der das Gespräch geführt wurde, war es, die mich daran hinderte, wieder ins Schlummern zurückzufinden, sondern der Inhalt der Unterhaltung. Ein einziges Drüber-Herziehen über die verkommene Jugend und der Unfähigkeit der Regierung mit ihrem „Minister von den Grünen“. Einen Ausdruck, der einem der Herren wohl sehr gut gefiel, weshalb er ihn zig Mal wiederholte und es dabei schaffte, die Verachtung bei der Betonung der Worte „Minister“ und „Grüne“ jedes Mal eine Nummer mehr in die Höhe zu schrauben.

Als ich mich zum zehnten Mal im Bett herumwälzte, erwischte ich mich dabei, wie in mir der Wunsch aufkam, ganz laut „ach, halt doch Dein altes Maul“ zu brüllen. Ich tat es natürlich nicht, sondern setzte mich stattdessen seufzend auf die Bettkannte. War dann wohl Zeit, jetzt aufzustehen.

Neben dem Bett stehend kehrte auch langsam meine anerzogene Diplomatie wieder in die Denkprozesse zurück. Es mag ja durchaus sein, dass diese alten Leute, die sich da gerade unterhielten, eine weit härtere Jugend hinter sich gebracht haben, als es den heutigen Kindern jemals zuzumuten wäre. Es mag ja auch sein, dass sie einen Lebensstil führen, der bestimmt keinen nennenswerten Fußabdruck in der Natur hinterlässt, weswegen sich sich über jede Kritik erhaben und von allen angedachten Vorschriften zu Unrecht eingeschränkt fühlen. Die Tatsache, dass sie im rüstigen Rentenalter immer noch ihrem Urlaub auf dem Fahrrad mit dem Zelt in den Satteltaschen verbringen, mag als Indiz für diese Tatsache herhalten.

Es steht mir also in keinster Weise zu, diese Leute zu kritisieren. Und schon gar nicht indem ich mich durch Schlafmangel verursacht daneben benehme und einen Streit vom Zaun breche. Wenn es etwas gibt, was ich aus meiner recht kurzen politischen Aktivität auf jeden Fall inzwischen gelernt habe, dann ist es, Diskussionen mit Menschen zu vermeiden, die bereits ein einbetoniertes Meinungsbild haben. Es ist völlige Energieverschwendung, hier irgendwelche Überzeugungsarbeit leisten zu wollen. Eine Erkenntnis, die meines Erachtens nach leider auch bei den Vertretern am anderen Ende der Altersskala, beispielsweise der „Letzten Generation“ noch nicht angekommen ist. Überzeugungsarbeit wird niemals gelingen, wenn man mit den eigenen Aktionen nebenbei diejenigen verschreckt, auf die man eigentlich noch Einfluss nehmen könnte.

Ich koche mir also einen Kaffee, setzte mich mit meinem Notebook in die kühle Morgenluft vor meinen Wohnwagen und beginne meine Gedanken in getippten Worten festzuhalten. Das Grüppchen der alten Leute hat seine gepackten Fahrräder inzwischen über den ganzen Platz bis zum Wohnwagen des Platzwartes geschoben, dabei ununterbrochen schnatternd wie eine Horde junger Mädchen. Selbst die Schlüsselübergabe und Verabschiedung verläuft in einer Lautstärke, die einer Großbaustelle alle Ehre machen würde. Ein Blick aufs Handy, halb acht ist es inzwischen. Eine Eule wie ich würde an einem Nicht-Arbeitstag jetzt noch lange nicht ans Aufstehen denken. Sofern man mir die Ruhe zum Ausschlafen lässt. Und ich bin ziemlich sicher, so geht es vielen auf dem Campingplatz, wie auch überall anders.

„Ich bin wach, also können und sollten es alle anderen gefälligst auch sein“ ist eine in der fortgeschritteneren Altersgruppe weit verbreitete Grundeinstellung. Wenn man die Leute darauf anspricht, bekommt man bestenfalls ein „stell dich nicht so an, als wir in deinem Alter waren, mussten wir jeden Tag so früh raus“ zu hören. Es handelt sich um eine Unart, mit der man wohl leben muss, selbst wenn das Aufbringen der erforderlichen Toleranz gelegentlich ziemlich Kraft kostet. Mein Wunsch wäre nur, dass ebendiese Toleranz auch von den Alten der heutigen Generation entgegen gebracht würde. Sich mit den heute anstehenden Sorgen nicht auseinandersetzen zu wollen, ist eins. Sie rundweg einfach nieder zu machen, zu ignorieren und vielleicht sogar jegliche Maßnahme zu sabotieren, ist etwas ganz anderes. Und gerade die Menschen mit ergrautem Haar, die sich auf die Weisheit des Alters berufen, sollten das am besten wissen.

Zwischenzeitlich ist halb neun. Ich höre hinter meinem Wohnwagen ein Räuspern. Schaue um die Ecke. Siehe da, zwei ältere Herren hat man zurückgelassen. Nein, sie gehörten wohl gar nicht erst zu der lautstarken Gruppe. Ich vermute, die beiden waren genauso froh, als die anderen endlich abgezogen waren. Die beiden sitzen mit ihrem Kaffeebecher da und unterhalten sich. Sogar das Zwitschern der Vögel ist lauter. Die Zelte sind abgebaut und auf den Fahrrädern verstaut. Ich habe während meines Tippens selbst im wachen Zustand von alledem nichts mitbekommen. Es geht auch anders, beweisen mir die beiden.

Mein eigener Kaffee ist leer. Und mein Schreibtisch wartet auf mich. Es wird Zeit, aufzubrechen. Vielleicht klappt es ja morgen mit dem etwas länger Schlafen. Oder übermorgen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Nicht nur in Sachen Schlaf.

Aufbruchswillige Grüße

Euer Clark

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