Vom Anspruch aufs alleinige Rechthaben

Wir alle sind so borniert, dass wir immer glauben, recht zu haben.
Johann Wolfgang von Goethe, deutscher Dichter und Naturforscher

Erschrocken riss die ältere Frau den kleinen Jungen an sich. Mit großen Augen starrte sie mich an und gab schnell eine Entschuldigung von sich. Eine der Situationen, in denen mir die passenden Worte fehlen. Es gab aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund für eine Entschuldigung. Aber die Dame war offensichtlich durch andere Radfahrer schon so sehr auf ein schlechtes Gewissen konditioniert, dass sie das Gefühl hatte, etwas falsch gemacht zu haben, nur weil ihr Neffe und der Hund beim Spazierengehen ein bisschen unachtsam die ganze Breite des kombinierten Rad-Fußweges nutzten. Statt immer langsamer zu werden und auf eine Lücke zu warten, hätte ich ja auch einfach die Klingel nehmen können. Aber mir erscheinen Radfahrer, die Hindernisse wegklingeln wollen, einfach immer ziemlich rüde. Solange ich es nicht eilig habe, vermeide ich daher das Klingeln, so weit es geht. Und heute früh hatte ich es nicht eilig. Es war warm, die Sonne schien vom Himmel. Ich war früher unterwegs, als ich es eigentlich geplant hatte. Und wollte ohnehin nur in den Vorort zum Bauernladen, um mich mit Obst und Gemüse für die nächsten Tage einzudecken. Nein, ich hatte kein Problem damit, dem kleinen Jungen zuzuschauen, der einen Getreidehalm ausgerupft hatte und dem kniehohen, leinenlosen Hund unter die Nase hielt, um gemeinsam die Wunder der Welt zu erkunden. Da machten mich die entschuldigenden Worte der Frau eher verlegen. Ich murmelte ein „Danke“, lächelte die Frau nickend an und trat wieder in die Pedale, um nun vorbei zu radeln.

Mein weiterer Weg führte an einer Ampel über eine Landstraße und dann auf einem kilometerlangen weiteren Rad-Fußweg schnurgerade neben einer Kreisstraße entlang. Okay, die Straße für die Autos ist schnurgerade. Den Weg daneben hat man mit ein paar bepflanzten Buchten mit künstlichen Bogen versehen. Irgendwann radele ich an einigen grasenden Rindern vorbei. Nur drei Drähte, der oberste kaum in Hüfthöhe, hindern diese großen Tiere daran, auch in die weitere Umgebung zu marschieren. Am Zaun gegenüber stand ein Auto. Hinter der Scheibe konnte ich die Silhouette des Fahrers erkennen. Nach einem Landwirt sah das nicht aus. Eher nach einem Städter, der seinen Kleinwagen mutig weit in den unbefestigten Feldweg gefahren hatte, um sich die werdenden Rumpsteaks ein bisschen genauer aus der Nähe zu betrachten. Wobei die meisten Menschen beim Anschauen von Nutztieren nur selten ans Essen denken. Vom eigenen Umgang mit dem Hund oder der Wohnungskatze leiten viele eine Erwartung ab, wie der Landwirt mit seinen Tieren umzugehen habe. Ein immer wieder erkennbarer Nebeneffekt unserer Überflussgesellschaft, dass man vom Endprodukt nur noch selten zum Herstellungsursprung zurück denkt.

In lauter solche Gedanken versunken lasse ich ausgedehnt meinen Blick über die Felder bis in die Ferne zum Melibokus wandern, während ich gemütlich vor mich hin radele. Als ich meine Augen wieder nach vorne richte, sehe ich einen Pulk Rennradfahrer auf mich zukommen. Zwischen uns liegen noch gut 50 Meter, mehr als genug Platz, um bequem auszuweichen, auch wenn dieser Pulk sehr schnell radelt und ich auf meinem Elektro-Koloss ja ebenfalls gut 20 km/h drauf hatte. Ich zog also mein Rad ganz knapp an die Grasnabe des asphaltieren Weges, um den Sportlern Platz zu machen. Was dem Rudelsführer der Jäger des gelben Trikots aber offensichtlich immer noch zu langsam ging. Lautstark motzte er irgendetwas und fuchtelte mit seinem linken Arm zu mir herüber, als er an mir vorbei zog. Ich war von der Hand, die ich fast ins Gesicht bekommen hätte, so erschrocken, dass ich voll ins Gras zog und erst mal kurz Mühe hatte, meine Fahrt wieder aufzufangen, ohne in de Acker zu stürzen. Daher bekam ich von dem Meckern des inzwischen schon einige dutzend Meter hinter mir befindlichen Rennradlers nur Fragmente mit. „Träumer“ und „rechts fahren“ kam in seinen Schimpftiraden vor.

Als die zehn oder zwölf Rennradler an mir vorbei waren, blieb ich kurz stehen. In mir kochte der Zorn. War dieser selbsternannte Hilfssheriff der Meinung, die Straße würde ihm alleine gehören? Ich überlegte kurz, ob ich die Richtung wechseln und hinter den Typen her fahren sollte. Zwei Tage zuvor war ich von Frankfurt nach Hause geradelt, daher waren meine Akkus nur noch zu einem Viertel gefüllt. Aber der Rest dürfte dennoch ausreichen, um mich lange genug auf der höchsten Unterstützungsstufe zu halten, um die Sportler wieder ein- und zu überholen. Es juckte mich, mit dem Fuchteltyp einen Streit vom Zaun zu brechen. Mein Magen knurrte. In dem Gebüsch neben mir zwitscherte friedlich ein Vogel. Über mir schien die Sonne. Nein, warum sollte ich wertvolle Energie ins Streiten investieren. Vermutlich würde ich nur das überdimensionierte Ego des Rudelführers pinseln. Ich schüttelte den Kopf, um die zornigen Gefühle aus dem Hirn zu vertreiben, dann setzte ich meine Fahrt zum Bauernladen fort.

Auf dem Weg dahin dachte ich wieder an die ältere Dame mit dem kleinen Jungen und dem gutmütig-neugierigen Hund. Diese Sorte Radfahr-Rowdys war es, die bei den Menschen für Angst und Schrecken sorgte. Da konnte ich ich noch so wohlwollend Lächeln, wenn die Dame von solch einem Rennradleitwolf-Rumfuchtler zusammengekackt wurde, wird sie beim nächsten Kontakt mit einem Radfahrer wieder freiwillig in die Brennesselbüsche springen. Warum muss so etwas denn sein? Würde unser aller Leben nicht viel angenehmer ausfallen, wenn wir ein bisschen mehr Miteinander an den Tag legen würden, statt denn nur aufs eigene Recht zu pochen?

Kartoffeln, Radieschen, Kohlrabi, Zwiebeln, Aprikosen, Bananen und zwei Gläser hausmacher Marmelade stopfte ich mir nach meinem Einkauf in die Satteltaschen und radelte wieder zurück nach Hause. Dieses Mal über die Felder, nicht mehr den Weg an der Hauptstraße entlang. Abgesehen von ein paar Erntehelfern auf den Äckern blieb mir hier der Kontakt zu anderen Menschen bis zum Ortseingang erspart. Eigentlich hätte ich nun wieder entspannt tagträumen können, um Kraft zu sammeln, bevor ich mich den Rest des Samstages dann wieder nur an den Schreibtisch setze. Aber es wollte mir nicht mehr gelingen, den Kopf vom Wälzen von allerlei Problemen weg zu bekommen.

Am Vortag war ich Abends essen und bin anschließend bei der nahe Gernsheim gelegenen Wallfahrtskapelle Maria Einsiedel etwas spazieren gegangen. Der Feldweg zur Versorgung der zahlreichen Felder ringsherum geht direkt von einen erst im vergangenen Jahr neu fertiggestellten Verkehrskreisel ab. Auf den ersten Metern dieses Feldweges steckt ein Holzpfahl im Boden, an dem ein folierter Zettel befestigt ist. Über einem roten Ausrufezeichen steht da geschrieben „Hier wird Vegetation durch Fahrzeuge zerstört!“ Unter dem Ausrufezeichen geht der Text weiter und weißt auf die Umweltgefahren durch parkende Fahrzeuge hin. Ich stand einige Minuten vor dem Schild und las es nochmal und nochmal. Unterschiedliche Gefühlswallungen in mir kämpften um die Oberhand. Sollte ich einfach auflachen? Oder den gut gemeinten Aktionismus irgendeines besorgten Mitbürgers würdigend gutheißen? Oder mich über die augenscheinliche Hirnrissigkeit solch einer Beschilderungskampagne aufregen?

Ja, klar, hier wurden tatsächlich ungefähr drei Fahrzeuglängen neben dem Feldweg regelmäßig zum Parken genutzt und waren entsprechend festgefahren bzw. beim Regen aufgewühlt. Auf jeden Fall nicht bewachsen. Aber „zerstörte Vegetation“ sieht definitiv anders aus. Ich stand hier neben einer im Laufe der vergangenen Jahre erst nigelnagelneu gebauten Umgehungsstraße, für die unsagbare Mengen ehemaliges Ackerland mit Asphalt versiegelt wurden. In Sichtweite auf der anderen Straßenseite wird das zweite Neubaugebiet binnen weniger Jahrzehnte an Gernsheim dran gebaut, für das ebenfalls die Natur weichen musste. Im Zuge des Straßen-Neubaus wurden an anderen Stellen Lärmschutzwälle aufgeschüttet und begrünt und verschiedene Bäume gepflanzt. Unzählige Quadratkilometer Land hier im Ried wurden im Laufe der sehr kurzen Vergangenheit durch den Menschen umgestaltet und aktiv mit veränderter Vegetation versehen. Und dann regt sich hier jemand über 15 Meter Lehmboden am Rand eines Feldwegs auf, den Menschen zum Parken nutzen, wenn sie mit ihrem Hund Gassi gehen oder vielleicht wirklich den eigentlichen Zweck des Pilgerweges angehen und vor den Marienstatuen das eine oder andere Gebet sprechen wollen? Wie muss ein Hirn gepolt sein, um aus so etwas ein beschilderungswertes Problem zu konstruieren?

Es ist die gleiche Sorte Mensch, wie der händefuchtelnde Rennradfahrer, wurde mir da bewusst. Und es ist auch die Dokumentation des Faktes, dass wir gesellschaftlich in einer Sackgasse stecken. Welcher Normalsterbliche hat eine Ahnung von einem „Flächenentwicklungsplan“? Wer hat noch einen Überblick, wo sich der Hundebesitzer hinwenden müsste, wenn er den Antrag stellen wollte, dass an dieser Stelle doch bitte ein befestigter Parkplatz eingerichtet werden solle. Am besten mit Straßenlaterne und Mülleimer nebst Hundehinterlassenschaftsbeutel. Umgedreht die Frage, in welcher Schule oder auf welchem anderen Weg hätte der Aufsteller dieses Schildes hier am Wegesrand denn in Erfahrung bringen können, wann er wie seinen Protest dazu hätte Kund tun können? Das ganze Geflecht der politischen Willensbildung ist für den Durchschnittsbürger viel zu undurchsichtig und unverständlich geworden. Solange alles halbwegs zur Zufriedenstellung aller funktioniert, stört diese Undurchsichtigkeit niemanden. Aber sobald es zu Entscheidungen und Umsetzungen kommt, bei denen sich manch ein Normalbürger nicht mehr „mitgenommen“ fühlt, erwacht auf einmal der Drang zu Eigeninitiative. „Die da oben“ tun ja nichts, reicht irgendwann als Legitimation für Selbstjustiz aus.

Das ist wohl die dunkle Schattenseite des Wohlstandes. Am Ende all meiner Grübeleien lande ich immer wieder an dieser Erkenntnis. Was ist der nächste Schritt des Schilderstellers, wenn er merkt, dass sein rotes Ausrufezeichen kaum ein Auto davon abhält, weiterhin hier zu parken? Folgt dann zerkratzter Lack an den Autotüren und plattgestochene Reifen? Wie reagieren dann die Autofahrer? Der Grundstein für ein Wettrüsten und gegenseitigen Hass scheint gelegt.

Wie bekommt man hier einen alle Seiten befriedigenden Konsens hin? Dem Autofahrer muss natürlich nähergebracht werden, dass er der Natur nichts Gutes tut, wenn er seine Benzindroschke die zwei Kilometer aus der Stadt bis hier auf den Feldweg bewegt, damit der Vierbeiner einen Baumstamm bespritzen kann. Andererseits muss man dem Schilderaufsteller auch das Wissen vermitteln, dass die Kanalisation der normalen städtischen Straßenentwässerung keineswegs in eine Kläranlage fließt, sondern direkt und ungefiltert in das nächstbeste Gewässer eingeleitet wird. Es ist also ziemlich schnuppe, ob ein Auto in der Stadt oder hier auf dem Feldweg Öl verliert. Der Dreck ist so oder so in der Natur.

Letztendlich hat man aber mit genau diesen beiden Vertretern ja eigentlich nicht wirklich die richtige Zielgruppe im Visier. Denn der hundeführende Autofahrer beweist durch sein Verhalten ja wenigstens schon ein gewisses Grundinteresse an der Natur. Und der übereifrige Schildersteller zeugt eindeutig von Problembewusstsein und Handlungswillen. Hier bräuchte es wirklich nur ein bisschen Wissenstransfer, um einen Kompromiss für beide zu finden. Weit schlimmer sind sicherlich die Couchpotatos mit Internetrecherche-Diplom, nach deren Meinung Enten gelb und Kühe lila zu sein haben. Hier tut weit mehr Wissensvermittlung Not. Nur wie geht man dergleichen an?

Nun habe ich mein Gemüse aus den Satteltaschen in den Kühlschrank gepackt. Eins der Marmeladengläser werde ich gleich öffnen und mir ein Brot schmieren. Zucker versorgt den Körper mit Glücksgefühlen. Das hilft mir bestimmt am besten, meine Hirnwindungen wieder zurück auf den Alltag zu richten, statt mich im Grübeln zu verlieren.

Einen jetzt über den Begriff ‚Hüftgold‘ nachdenkenden Gruß

Clark

P.S. eigentlich wollte ich ja noch auf eine andere Sorte Rowdys eingehen, Fußballfans und Konsorten (daher die Hervorhebung im Titelbild). Die Verschandelung der Umwelt durch diese Typen (und hier ist sicherlich das Maskulinum der korrekt verwendete Genus) fällt mir persönlich weit öfter unangenehm ins Auge, als denn Fahrzeugspuren am Rand eines Feldwegs. Aber diesem Thema widme ich irgendwann dann doch einmal einen ganzen eigenen Blogeintrag…

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