Eine echte Alternative
„In der ganzen Welt ist jeder Politiker sehr für Revolution, für Vernunft und für die Niederlegung der Waffen – aber nur beim Feind, bloß nicht bei sich selbst.“
Hermann Hesse (1877-1962), deutscher Dichter, 1946 Nobelpreis für Literatur
Irgendwo in den Tiefen meiner Archive lagert das umfangreiche Konzept der ERP. „Extranationale Revolutions-Partei“ haben wir die Idee einer neu zu gründenden Partei damals genannt. „Wir“, ein Haufen Arbeitskollegen die vor über 20 Jahren im Auftrag einer Konkursverwalterin die zerbrechenden Reste eines ehemals stolzen Unternehmens abwickelten und sich nach regelmäßig überlangen Arbeitstagen Abends noch in einer Kneipe auf ein Glas Bier zusammen setzten. Spätestens beim zweiten Glas lag die Frage nach der Ungerechtigkeit in der Welt auf dem Tisch. Das dritte Glas offenbarte uns, dass die derzeitige politische Systemführung, ja einfach das ganze System nicht dazu taugt, die Probleme der Menschen von heute sinnvoll anzugehen. Wohlgemerkt: zu diesem Schluss kamen wir deutlich vor dem Jahrtausendwechsel.
Bierglas Nummer vier und fünf verdunsteten zwischen Unmengen von Zigarettenrauch in unseren heiß geredeten Kehlen beim Sinnieren über die Vorgehensweisen, die eine vernünftige Regierung unseres Erachtens nach an den Tag legen sollte. Die Bestellung des sechsten Bieres war mit einem Blick auf die Uhr regelmäßig schon mit dem gemurmelten „das ist aber das Letzte, sonst wird die Nacht so kurz“ verbunden. Meistens kam dann jemandem aus unserer Runde noch ein zündender Einfall, der unbedingt noch diskutiert werden musste. Und so stand dann immer wieder irgendwann die hübsche Kellnerin an unserem Tisch und forderte uns zur „Last Order“ auf, weil in wenigen Minuten die Gaststätte schloss. Es waren immer hübsche Kellnerinnen. Lag vielleicht daran, dass unsere nur aus männlichen Fachdiskutanten bestehende Gruppe diese Anforderung instinktiv als Auswahlkriterium für die anzusteuernde Kneipe ansetzte.
Ich kam irgendwann zu dem Schluss, die wesentlichen Inhalte unserer weltverbessernden Erkenntnisse aufzuschreiben. Wir besorgten uns die Wahlprogramme der regierenden Parteien und arbeiteten im Laufe der Wochen und Monate die Überschriften ab, so dass wir am Ende tatsächlich ein eigenes Programmheft aufweisen konnten, in dem wir zu allen Themen der Zeit unseren Senf dazu gaben. Schmackhaften Senf, wohlgemerkt, weil aus unserer Sicht heraus funktionierende Ideen.
Die Abwicklung eines Insolvenzverfahrens bringt nur leider mit sich, dass man immer weniger Personal braucht, je näher der Zeitpunkt des finalen Lichtabschaltens heran rückt. Irgendwann war aus unserer illustren Truppe nur noch ich übrig. Alle anderen hatte es zu neuen Arbeitgebern und dort in neue anspruchsvolle Herausforderungen verschlagen. Das mit meinem damals in meinem Büro stehenden Nadeldrucker lautstark zu Papier gebrachte Konzept der ERP wanderte in den Schrank. Von da in einen Ordner, in den Keller, durch mehrere Umzüge in Kartonstapel. Und lagert dort nun bis heute zwischen irgendwelchen Buchhaltungsunterlagen, die seit zehn Jahren längst hätten vernichtet werden können. Wenn ich denn mal Zeit für solch profane Tätigkeiten fände.
Dieser mangelnden Zeit mag man auch zuschreiben, dass ich in all den folgenden Jahren nie mehr eine solche Plauderrunde aus Menschen mit konkreten politischen Vorstellungen um mich herum habe aufbauen können. Natürlich läuft häufig das Thema einer sowohl im privaten als auch unter Kollegen geführten Unterhaltung irgendwann auf politische Themen hinaus. Aber aus mir eigentlich unverständlichen Gründen wird aus der politischen Ausrichtung eines Menschen meistens ein Tabu generiert. Warum stehen die Menschen nicht mehr zu ihren Überzeugungen? Vielleicht, weil es gar keine wirklichen Überzeugungen mehr sind? Könnte es sein, dass man Idole nur noch aus dem Sport und der Musikbranche, ja vielleicht noch aus Spielfilmen kennt, aber wirkliche Leitfiguren aus der politischen Landschaft so sehr verschwunden sind, dass sich keine Anhänger mehr finden, die eine offene Meinung auch nach außen zu tragen gewillt sind?
In einem wohlstandsverwöhnten Land voller unter Vollauslastung stehender Menschen ist das Beschäftigen mit politischer Willensbildung eventuell ohnehin zu viel verlangt. Wie oft habe ich zu meiner Zeit als aktiver Feuerwehrmann und für die Mitgliedergewinnung verantwortlichem Vereinsvorsitzenden von Bewohnern meiner Heimatstadt anhören müssen, dass sie ja „nur hier wohnen aber ansonsten sich mangels Zeit kaum ins lokale Geschehen einbringen können“. Dieses „lokale Geschehen“ ist aber nicht nur die Freiwillige Feuerwehr, sondern auch der Gartenbauverband, der Angelverein und der Schachclub. Das „lokale Geschehen“ sind auch die Schulen, das Schwimmbad, die Parkanlagen und der Neubau zahlreicher Kreisverkehre. „Kann ich mich nicht mit beschäftigen. Keine Zeit. Ich wohne hier nur“. Übersetzt in besser verständliches Deutsch lautet diese Aussage: „lass mich damit in Ruhe, es geht mir am Arsch vorbei“.
Wenn dann seitens Arbeitgeber noch mehr Anforderungen dazu kommen und immer mehr Arbeit von immer weniger Menschen erfüllt werden muss, kommt schnell eine gewisse Abstumpfung zum Vorschein, in der diese Scheißegalhaltung noch mehr befeuert wird. Im Sprachgebrauch rede ich vereinfachend vom überlasteten Arbeitnehmer. Aber das gilt in gleicher Form auch für die halbtags oder (selten geworden) gar nicht arbeitende Frau, die sich um Kinder und Haushalt kümmert, Taxidienst erledigt und sich auch sonst mit zahllosen Terminen zuballert. Es bleibt schlichtweg keine Luft mehr, um sich mit Details der Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen. Man hat zu funktionieren. Und da im Großen und Ganzen ja auch alles ganz brauchbar aufgebaut zu sein scheint, spielt man dieses Spiel immer weiter mit. Dass die Öffnungszeiten der Kindergrippe mit den Arbeitszeiten bei einer längeren Anfahrt zur Arbeit nicht zusammen passen, löst man irgendwie. Dass die Fahrt zur Arbeit eine Tortur wird, weil man im Baustellen-bedingten Dauerstau fast nicht vorwärts kommt, akzeptiert man auch protestlos. Dass man nach einem langen Tag gerne eine Runde schwimmen gehen würde, aber das öffentliche Hallenbad zu der Uhrzeit längts geschlossen hat, ist halt eben so. Okay, die Krankenschwester letztens wirkte ein bisschen gestresst und die Post muss man jetzt von Automaten übernehmen statt von Menschen, aber damit arrangiert man sich ebenfalls auf improvisierende Weise.
Dass all diese Dinge eine direkte Folge politischer Entscheidungen sind und sich aus diesen tausend für sich alleine betrachtet unscheinbaren Sachverhalten ganz langsam ein einschränkendes Korsett entwickelt, bekommen wir während des immer schnelleren Rennens im Hamsterrad gar nicht wirklich mit. Bis dann irgendwann die ersten Kandidaten bei dem Spiel auf der Strecke bleiben. Naturgemäß erwischt es die Schwachen und Armen zuerst. Genau die Gruppe, die aus ihrer ohnehin schon vorhandenen Not heraus gleichzeitig auch am empfänglichsten für jede Art von Versprechungen ist. Es bedarf dann nicht sonderlich viel Propaganda, um eine Grundstimmung anzuheizen. Populisten, die unter anderen Umständen eigentlich niemals Gehör gefunden hätten, wissen diese Gelegenheit zu nutzen. Und merken dabei meistens gar nicht, dass sie selbst nur gesteuerte Marionetten einer übergeordneten Macht sind. Es findet sich immer ein passender Politiker, der sich zur Sicherung der Pfründe der obersten Liga verheizen lässt. Ein Modell, das leider inzwischen rund um den Globus ziemlich Schule macht.
Nun rotieren wir alle in einem Strudel, dessen Zentrum ein tiefes schwarzes, alles verschlingendes Loch darstellt. Ein paar warnende Stimmen sind hier und da zu hören. Aber die gehen im Lärm das allgegenwärtigen Rauschens ziemlich unter. Der kontinuierliche Abgang unseres Wohlstandes wird nur deshalb nicht noch beschleunigt, weil die ganzen Horror-Szenarien-Hetzer sich untereinander nicht einig sind und mehr gegenseitig bekriegen, als denn zu kooperieren. Aber den besagten Strudel verlangsamen oder gar stoppen bekommt auch niemand hin, denn auf der Seite der mit offenen Augen eine machbare bessere Zukunft sehenden Vertreter sieht es nicht besser aus. Auch hier wird im Zank um die vermeintlich beste Lösung nur Porzellan zerschlagen und nutzlos Energie vergeudet, statt denn konstruktiv gemeinsam an einem Strang zu ziehen und eine Wende zum Besseren hin zu anzustoßen.
Will ich einer dieser ungehörten Hinweisgeber sein? Kann ich mir vorstellen, nicht dem Wahnsinn zu verfallen, während ich mit vermutlich absehbar geringem Erfolg versuche, den einen oder anderen Mitmenschen wach zu rütteln? Gibt es nicht bereits wahrlich schwergewichtige, weithin bekannte Vertreter, die sich mühsam um ein Umdenken bemühen und auch keinerlei Gehör zu finden scheinen? Stellen meine Gedanken als Sammelsurium tausender bereits vorhandener Ideen nicht nur ein weiteres kleines Einzellämpchen dar, statt denn dem von mir so schmerzlich vermissten Zusammenhalt der ganzen Umdenker zum satten Ausleuchten von wirklich neuen Wegen?
Wenn es nach diesen Fragestellungen geht, die ich mir immer wieder stelle, sollte ich mir vielleicht nur ein Bier aus dem Kühlschrank holen, mich aufs Sofa fallen lassen und am Fernseher auf ein angenehmeres Programm rüber zappen. Aber so leicht ist es nicht. Nicht nur, weil ich zum einen keinen Fernseher besitze und zum anderen weit lieber ein Glas Wein, als denn ein Bier trinke. Nein, auch weil ich es als eine bürgerliche Pflicht ansehe, wenigstens einmal am Tag einen Blick in die Nachrichten zu werfen. Und es einfach nicht verhindern kann, dass ich schon beim Lesen der Überschriftenzeilen regelrechten Brechreiz verspüre. Was ist denn nur in unserer Welt von heute los? Teilt sich die Bevölkerung der im globalen Spiel aktiven Nationen wirklich nur noch in drei Gruppen auf? Diejenigen, die ausgebeutet werden und kaum mehr wissen, wie sie auf den Füßen bleiben sollen. Diejenigen, die an diesem perfiden Spiel unendlich viel Geld verdienen und deshalb vor keiner noch so inhumanen Vorgehensweise zurückschrecken, damit sich an diesem Zustand auch bloß nichts verändert. Und zum dritten eine ganz große Masse von Menschen, die dermaßen wohlstandsfaul und ignorant geworden sind, dass sie all diese Tatsachen rein gar nicht zu berühren scheint. „Ist schon schrecklich, was so auf der Welt passiert. Wir spenden an Weihnachten mal wieder ein bisschen großzügiger und dann ist schon alles okay.“ Würg!
Also vielleicht doch das alte Programm der ERP aus dem Keller holen und eine eigene Partei gründen? Der Gedanke hat einen gewissen Charme. Aber mehr auch nicht. Denn ich bin heute in meinen Denkansätzen irgendwie ein Stück weiter. Letztendlich geht es mir wie den derzeitigen Protest- und Möchtegern-Rechts-Wählern: ich sehe den Bedarf einer tiefgreifenden, einer umfassenden, einer systembeeinflussenden und vor allem einer schnellen Veränderung. Auch wenn das „R“ in dem vor zwei Jahrzehnten ausgedachten Parteinamen für „Revolution“ steht, so sah das alte Konzept doch „nur“ ein langsames Mitschwimmen und Wachsen innerhalb der bestehenden Strukturen vor. Ähnlich, wie es vor langer Zeit mit besten Absichten und einer erwartungsvollen Wählerschaft einmal bei der Liste 90/Die Grünen erfolgte. Oder gerade aktuell die AfD erlebt. Bei den Grünen war die Luft raus, nachdem sie erst einmal das angestrebte Ziel erreicht hatten. Seitdem begeht die Partei mehr und mehr Verrat an den eigenen Werten und verschwindet allmählich in der völligen Bedeutungslosigkeit. Drauf zu bauen, dass dies mit der AfD irgendwann genauso passiert, könnte eine riskante Wette auf die Zukunft sein. Aber zu erleben, wie die unangenehmen Teile der Zielvorstellungen dieser angeblichen Alternative in die Tat umgesetzt werden, ist auch nicht wirklich ein erstrebenswerter Gedanke. Ich schreibe mit Absicht „Teile“, denn tatsächlich werden viele wirklich gute Ansätze dieser Partei nur deswegen verteufelt, weil sie halt eben von einer rechtsorientierten Gruppierung stammen. Dabei wäre hier und da ein konstruktives Aufgreifen der Ansätze wünschenswert.
Mund halten geht nicht. Partei gründen auch nicht. Was also nun? Verbittert in meinem Kämmerchen vor mich hin broddeln und überraschen lassen, was denn so alles noch passiert? Klingt auch nicht wirklich nach einer genialen Idee, oder? Vielleicht einfach ganz vorne beginnen. Da, wo wir im bierseligen Beisammensein gegen Ende des alten Jahrtausends schon einmal starteten. Gedanken aufschreiben. Durchsprechen. Vielleicht verbessern. Vielleicht verwerfen. Wünsche und Sehnsüchte notieren. Das Was, das Wofür und das Warum aufschreiben. Und dann mal schauen, ob sich ein Wie und ein Wann ergibt. Wichtig ist dabei jedoch auch ein Mit Wem. Ohne Mitstreiter macht die beste Idee keinen Sinn.
Da ich nicht leugnen kann, dass mich Gedanken zu dem Thema doch recht häufig beschäftigen, greife ich den Themenblock hier in diesem Blog auf und werde mehr oder minder oft einzelne Einfälle ansprechen. Wer weiß, vielleicht finden sich der eine oder die andere ebenfalls Populismus-Müde, der zu dem Thema etwas beitragen möchte. Ich könnte mir sogar vorstellen, den Bereich „Politik“ hier auszulagern und in einem eigenen Rahmen zu behandeln, insbesondere auf einer eigenen Website. Mir fehlt nur per heute tatsächlich noch eine Idee für einen passenden Namen dieser dann hoffentlich echten Alternative.
Achtet auf die Kategorie „Politik“ und das Schlagwort „Partei“. Und bringt Euch in die Diskussion ein! Gerne auch einfach nur per eMail, falls Euer Gedankengang erst einmal ins Unreine hinein gedacht festgehalten werden kann. Wenn ich jetzt manch eine eMail mit dem Inhalt „Clark, Du spinnst doch“ bekommen sollte, kann ich vorab schon mitteilen: Yepp, das kann schon sein. Aber ich bin ziemlich sicher, dass unsere Gesellschaft dringend ein paar Spinner braucht, um nicht total aus dem Ruder zu laufen. Das, was die angeblich „Normalen“ derzeit verzapfen, erscheint mir zumindest nicht sonderlich förderungswürdig. 😉
Für heute nun erst einmal Schluss an dieser Stelle. In Kürze geht es weiter. Dann bestimmt auch schon mit manch einem konkreten Denkanstoß. Und immer dran denken: der Blog hier soll dem Dialog dienen. Nicht meinem Monolog. Ran an die Tastatur. Her mit Meinungen und Ideen!
Ich freue mich drauf!
Euer Clark