Qui tacet, consentire videtur! Das schweigende Abnicken.

„Ohne ausreichende Erfahrung sollte man in Deutschland kein Asyl suchen. Mit ausreichender Erfahrung unterlässt man es sowieso.“
Martin Gerhard Reisenberg, Bibliothekar und Autor


Der öffentlichkeitsscheue Mesut Özil beherrscht seit Tagen die Schlagzeilen. Für mich bekennenden Nicht-Fußballer eigentlich ein gutes Zeichen. Dann scheint in der Welt derzeit außer den schon nicht mehr berichtenswerten täglichen Terror-Toten und ein paar Dutzend ertrunkenen Flüchtlingen nichts Wichtiges passiert zu sein.

So kam es, dass ich mir einen der unzähligen Özil-Berichte durchgelesen habe. Und es mich anschließend tierisch in den Fingern juckte, sofort meinen eigenen Senf dazu zu geben. Da wird doch tatsächlich von angeblich ‚misslungener Integration‘ geredet. Bei einem Mann, der schon in der zweiten Generation in Deutschland lebt. Wie kann jemand von sich selbst behaupten ein stolzer Deutscher zu sein, wenn er so mit einem Mitbürger umgeht? Was soll denn der Maßstab sein, an dem „deutsch“ gemessen wird? Trinkfestigkeit und das größte Maul am Stammtisch? So sehr mir das Posieren des Nationalspielers mit dem angehenden Diktator in dem Land seiner Großeltern auch missfiel, so sehr fehlt mir das Verständnis für die Volkszorn-Aufpeitscher, die hier ein ziemlich einseitiges Weltbild vermitteln wollen. Nahezu alle europäischen Regierungen hofieren den Mann in Ankara derzeit auf nahezu genauso widerwärtige Art, Hauptsache, er behält die ganzen Flüchtlinge auf seiner Seite der Grenze. Natürlich verpacken Regierungsvertreter dieses Auftreten besser. Ein T-Shirt zu verschenken und sich dabei fotografieren zu lassen, war nun wirklich eine saublöde Idee. Aber wird man in diesem Land wirklich so schnell vom Nationalheld zum abschiebungswürdigen Ausländer abgestempelt?

Erinnerungen an die Erzählungen meines Großvaters stiefmütterlicherseits wurden in mir wach. Ein Deutscher, sollte man meinen. Zumindest durfte der gebürtige Schlesier sich für die Wehrmacht kämpfend in Afrika die Gesundheit ruinieren. Dann kam der eiserne Vorhang und schwubs wurde aus dem Mann ein Pole, ein Ost-Blockler, kurzum ein Gegner also. Hoch lebe das gepflegte Feindbild. Mehr als nur eine Generation wuchs mit genau dieser festen Überzeugung auf: Amerikaner = gut, Russe = böse. Kaum einer stellte diesen Grundsatz in Frage. Wobei zu diesen Zeiten die Türken ja noch zu den Guten gehörten. Immerhin verrichteten sie in unserem Land bereitwillig die niederen Arbeiten für ganz kleines Geld.
Hoch und runter, auf und ab… Der Übergang vom Liebling zum Schmarotzer verläuft fließend. Boah, ich beginne mich aufzuregen, wenn ich mir zu diesem Schubladendenken noch mehr Beispiele ins Gedächtnis rufe.

Das Comedyduo Badesalz hat diese durch Parolen und Vorurteile steuerbare Wankelmütigkeit der Menschen einmal wunderbar parodiert. Ich habe den Text im Internet gefunden:

Stadionsprecher: 0 : 2 in der 83. Minute, Torschütze erneut: Anthony Sabini!
Herbert: Oh Mann, so ’ne Scheiß du, schießt uns der Drecksack jetzt schon des zweite Tor nei, du!
Walter: Ich hab‘ den eh gefresse, den Bimbo! Dass die überhaupt hier kicke dürfe, die Halbaffe!
Herbert: Mannomannomann du! Erst mit de Brotrinde aus ‚m Busch gelockt, und jetzt versaue se uns die Meisterschaft!
Walter: Hähä, vielleicht solle mer dem mal e Banan‘ runnerschmeiße?
Herbert: Eija, so wie der leeft, der Gorilla, möcht er bestimmt aach ma e Banan‘ esse! (lacht)
Beide: Uhuhuhuhuhuhuh!
Walter: Komm Neescher, Banänche!
Beide: Uhuhuhuhuhuhuh!
Walter: Wie der schon leeft mit seine dicke Schenkel! Komm!
Beide: Uhuhuhuhuhuhuh!
Typ von hinten: Eeh, samma, seid ihr blöd oder was?!
Walter: Was willst dann du, du Studentekopp, he?
Typ: Wißt ihr nit dass der Sabini ab der nächste Saison für uns spielt?
Walter: Was? Der Bimbo bei uns? Nächste Saison? Da glaub ich ja ernstvoll nit!
Typ: Ja, lest ihr kei Zeitung oder was? Der hat doch gestern unnerschribbe. Zweieinhalb Millione Ablöse!
Herbert: Was?! Zweieinhalb Millione Mark Ablöse? Hohohohoho
Walter: Zweieinhalb. Ich mein, annererseits, des isser irschendwo aach wert, oder?
Herbert: Des glaubst du aber, du! Der trifft wenigstens mal es Tor, ne!
Walter: Genau! Und überhaut, guck ma, wie der sich bewescht, wie eine Gazelle, du!
Herbert: Oh, des is doch e ganz anner Athletik da drübbe, wo die herkomme. Weißte, da wo unsern schlappmache, da laufe die noch weiter, die Bimbosche! (lacht)
Walter: Des sind die doch gar net anners gewöhnt, sach ich dir, des is denen ihr Nadur. Weißte, wenn man erstma so’n Zebra mit de Hand gefange hat, ne, da biste fit, ne!
Stadionsprecher: 0:3 in der 87. Minute. Torschütze Anthony Sabini!
Herbert: Klasse, hoho, Wahnsinn! Was en Schuß, hier was en Schuß!
Walter: Supär!
Herbert: Hier des macht richtisch hungrig, weißte des hier. Gib doch ma e Banänche rübber, Walter!
Walter: Ach, des geb ich dir gerne…warte ma…ah, laß dir’s schmecke. Hmm! (mit vollem Mund:) Da spielt der Sabini nächste Saison für uns, des find ich ja klasse
Herbert: (auch mit vollem Mund) De Sabini, du, für zweieinhalb Millione Mark spielt da.
Walter: Des isser aber aach werd, oder?
Herbert: Des is der echt wert, der Sabini!
Walter: Da freu‘ ich mich schon rischtisch auf die nächste Saison, du!
Herbert: Wie er leeft, des Bimbosche….
Walter: Guck dir des mal an! Lauf Sabini, lauf Supär!
Herbert: Sabini….!

Damals konnte ich über den in typisch hessischer Mundart gehaltenen Schlagabtausch herzhaft lachen. Heute bin ich da zurückhaltender, denn es steckt viel zu viel Wirklichkeit in dieser Darstellung. Wirklichkeit, die sich in einer immer extremer werdenden verbalen und auch tatsächlichen Gewalt ihre Bahn bricht. Was ist denn nur los mit den Menschen heute? Was wird aus unserer Gesellschaft? Ist es überhaupt noch „eine“ Gesellschaft oder sind es bald nur noch lose Gruppierungen von einseitig informierten Menschen mit ausgeprägten Vorurteilen?

Ich habe mir den Griff zur Tastatur vor ein paar Tagen dann letzten Endes verkniffen. Was soll ich zu dieser Diskussion denn noch beitragen? Deutschland hatte nicht den Mumm, die Teilnahme an der Weltmeisterschaft aus klar geäußertem Protest gegenüber der politischen Führung des Gastgeberlandes einfach komplett abzusagen. Nach der Schmach des grandiosen Rausfliegens wünschte man sich dann wahrscheinlich, man hätte es doch getan. Aber da das Kind schon im Brunnen lag, musste ein Sündenbock gefunden werden. Ausländer eignen sich dazu derzeit besonders gut, immerhin sind die ja mehrheitlich Verbrecher, Vergewaltiger und sonstige Hochkriminelle. Warum also nicht auf einen zurückgreifen, der sich aus Dummheit oder vielleicht sogar politischer Überzeugung hervorragend selbst dafür angeboten hat? Mit der entsprechenden Marketingmaschine und ausreichend polarisierender Berichterstattung lenkt man so von allen anderen aktuellen Dilemmas ab und der deutsche Fußball bekommt obendrein noch einen Vorsprung für die Ausrichtung der übernächsten Europameisterschaft. Bevor die bösen Türken da eventuell mit ihrer billigeren Infrastruktur das Rennen machen.

Nein, beim Thema Fußball muss ich mich zurückhalten. Das aktuell diskutierte Phänomen „Özil“ hat aber eigentlich auch gar nicht wirklich etwas mit Fußball zu tun! Es kocht in der Gesellschaft nur gerade hoch, weil sich die Menschen in diesem Land für Fußball deutlich mehr interessieren, als denn für Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft. Dass Politiker zurücktreten gehört zum Alltag. Nach dem ‚Warum‘ fragt überhaupt keiner mehr. Wenn Wirtschaftsvertreter zurücktreten, wird nur vom Geld geredet. Ethische Gründe schaffen niemals die Hürde in die Medien. Und Wissenschaftler, die aus Protest ihre Tätigkeit niederlegen? Ist das irgendeinen Journalisten überhaupt den Griff zum Kugelschreiber wert? All das ist jedoch ganz etwas anderes, wenn es plötzlich um einen Fußballer geht. Ein Name, den jeder schon einmal gehört hat. Ein Gesicht, mit dem jeder etwas verbinden kann. Da schaut man genauer hin. Da beginnt man sich plötzlich zu interessieren. Damit kann man die Auflagenstärke einer Tageszeitung wieder für ein paar Tage retten.

Das wahre Problem unserer Zeit dürfte weit eher in der ausgeprägten Wohlstandsträgheit zu suchen sein!

Einige übersatte Menschen haben überhaupt keine erwähnenswerten Probleme mehr, sehen deshalb auch nicht den geringsten Veränderungsbedarf.

Ein anderer, kontinuierlich anwachsender Teil der Bevölkerungen unserer sogenannten westlichen Gesellschaften rutscht mehr und mehr in Problemsituationen ab, in denen er sich alleingelassen und mit seiner geltend gemachten Kritik an den Zuständen einfach nicht wahrgenommen fühlt. Diese Menschen greifen zu jedem Strohhalm, der sich ihnen bietet. Egal, wie hohl er sein mag. Egal, wie abgedroschen und weltfremd und brandgefährlich die Parolen dahinter auch sein mögen.

Aber die wirklich breite Masse der Menschheit merkt zwar, dass irgendwas schon länger nicht mehr so ganz in der richtigen Bahn verläuft. Diese Menschen sehen jedoch keinerlei Handlungsbedarf, weil es ja noch nur „die Anderen“ betrifft. Man redet vielleicht mal am Stammtisch oder in den gefürchteten Plauderrunden auf Familienfeiern über die Missstände, von denen man gehört hat und die man gelegentlich auch selbst im Bekanntenkreis zu sehen bekommt. Aber eine wirkliche eigene Stellung beziehen, die eigene Stimme in die öffentliche Diskussion tragen oder gar eigenen Aktivismus zum Gegenwirken starten, dazu reicht es dann doch in den meisten Fällen nicht.

Was zur Folge hat, dass nur noch die Nörgler und Quengler die Sprachrohre in die Hand nehmen. Und zu allererst bei denen Gehör finden, denen aus reiner Verzweiflung inzwischen jede beliebige Änderung der Umstände recht zu sein scheint. Egal in welche Richtung sich etwas ändert. Hauptsache, es ändert sich überhaupt endlich mal irgendwas!
Und der Rest des Volkes schaut zu, denkt sich „die da oben werden das schon richten“ …und hält die Klappe.

Irgendwann vor vielen Jahrzehnten hatte ich während meines Schulunterrichtes einmal über Interviews mit Menschen der zwei Generationen vor mir gelesen, die allesamt gleichsam den Satz „wir können uns gar nicht erklären, wie ‚das‘ passieren konnte“ von sich gaben. Heute weiß man es besser. Sollte man zumindest meinen. Aber ist dem wirklich so? Nehmen wir nicht wieder schweigenden Mundes bei gleichzeitig sehendem Auge eine Entwicklung einfach hin, die sich mehr und mehr zu verselbständigen droht?

Wie oben geschrieben, eigentlich wollte ich mich aus der Diskussion um den Gelsenkirchener Starfußballer raushalten. Dann jedoch fiel mir ein Artikel in der Kolumne des Spiegels ins Auge, dessen Aussage so sehr den Nagel auf den Kopf trifft, dass ich mich doch umentschieden habe. Diesen wirklich lesenswerten Artikel möchte ich hier weiterverbreiten. Denn auch ich würde mir einfach wünschen, dass mehr Menschen ihre eigene Meinung kund tun. Unser Staatssystem, unser Miteinander, ja, unser aller Zukunft hängt davon ab!

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/mesut-oezil-debatte-wir-schweigen-extremisten-an-die-macht-kolumne-a-1220067.html

Reden wir miteinander! Lösungen entwickeln sich nur aus Kommunikation. Probleme lassen sich nicht totschweigen. Den Mund zu halten gibt nur dem lautesten Schreihals Recht. Bin ich der Meinung eines dieser Schreihälse? Nein, absolut nicht!

Wie seht Ihr die Sache?

Gespannte Grüße von

Eurem Clark

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