Von der Reduktion auf die Entfernung voneinander

„Zeit haben nur diejenigen, die es zu nichts gebracht haben. Und damit haben sie es weitergebracht als alle anderen.“
Giovannino Guareschi, italienischer Schriftsteller


Wie schaffen es andere Menschen, mit der geringen am Tag zur Verfügung stehenden Zeit klar zu kommen? Eine Fragestellung die mich immer wieder beschäftigt. Ich habe einige Freunde, mit denen ich seit Monaten versuche, ein Treffen auf die Beine zu stellen. Es gelingt uns nicht. Ganz abgesehen von den dafür zu überbrückenden räumlichen Distanzen klemmt es überwiegend an der Tatsache, dass unsere Kalender einfach zu sehr angefüllt sind mit irgendwelchen Verpflichtungen. Und bekanntlich schreibt kein Mensch all die Dinge in den Kalender, mit denen er sich tatsächlich beschäftigten sollte. Die wahre Auslastung liegt entsprechend meist noch viel höher.

Demgegenüber lese ich in manchen Social-Media-Portalen dann hin und wieder bei Bekannten einen Eintrag im Sinne von „Ey Leute, was geht? Mir ist so langweilig.“ Ich starre dann regelmäßig entgeistert auf den Bildschirm und versuche im Geiste in meiner Vergangenheit zu forschen, wann ich denn zum letzten Mal das Gefühl der Langeweile verspürt habe. Das muss sehr lange her sein.

Nun gibt es aber zwischen diesen beiden Extremen auch jede Menge Menschen, die es schaffen, einen halbwegs gesunden Mittelweg zu finden. Ein guter Freund erstaunt mich da beispielsweise immer wieder aufs Neue. Er kümmert sich ums eigene Haus, hat vier Kinder, die nicht zu kurz kommen, unternimmt gelegentlich etwas mit seiner Frau, ist in Vollzeit berufstätig und nebenher auch noch bei der Freiwilligen Feuerwehr ehrenamtlich hoch aktiv. Wie schafft das ein Mensch? Okay, er ist jünger und damit sicherlich wesentlich belastbarer, als ich mit meinem bald angehenden halben Jahrhundert. Aber ist das wirklich der einzige Grund?

Wenn ich dann hier und eine Buchempfehlung zu dem Thema genannt bekomme, greife ich begeistert zu und fange voller Erwartung an zu schmökern. Vielleicht entdecke ich darin ja meine ganz persönliche Weltformel. Und selbst wenn nicht, so finde ich in den Büchern doch immer mal wieder auch noch andere Ansätze und frische Idee. Ganz nach dem Motto, welches ich meiner Tochter immer wieder zu predigen pflege: man kann niemals zu viel wissen. 😉

Im gerade aktuell von mir gelesenen Buch wurde unter anderem auch auf die berühmte ‚Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral‘ von Heinrich Böll Bezug genommen. Ich würde sie gerne hier einfach einkopieren, allerdings ist das gemäß Urheberschutz nicht erlaubt. Werft daher einfach einen Blick ins Internet, bitte. Die Geschichte vom mexikanischen Fischer und dem Investmentbanker wird trotz aller verhindernden Maßnahmen seitens des Verlages immer wieder irgendwo in voller Länge abgedruckt. Kurz zusammengefasst handelt die Geschichte von einem Investmentbanker, der einen Fischer davon zu überzeugen versucht, dass ein Maximieren der Arbeitsleistung und damit verbunden das Generieren eines hohen Ertrages die Möglichkeit verschafft, nach einigen Jahrzehnten überwiegend von den Früchten dieses Schaffens zu leben und mit ganz kurzen Arbeitstagen das Leben rundherum genießen zu können. Am offen gelassenen Ende der Geschichte wirft der Fischer die Frage auf, wo denn die Verbesserung gegenüber seinem aktuellen Lebensstil sein solle, denn er hat ja jetzt schon nur kurze Arbeitstage und genießt das Leben.

Heinrich Bölls Anekdote ist mir im Laufe der Zeit in einigen Seminaren und diverser Literatur immer wieder begegnet. Sie soll eigentlich den Denkanstoß liefern, das eigene Rennen im Hamsterrad zu hinterfragen. Schon seitdem ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, kritisiere ich darin jedoch das strikte Schwarz-Weiß-Denken. Der böse Investmentbanker will in seiner grenzenlosen Profitgier den maximal machbaren Profit aus der Situation herauspressen. Und der gute Fischer führt in seiner nicht weniger grenzenlosen Sorglosigkeit das glücklichste aller denkbaren Leben. Meine Meinung? Bullshit!

Sorglosigkeit ist ein Ergebnis der Gedankenlosigkeit. Und diese wiederum ist mit eine der größten Ursachen unserer heutigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme. Okay, bei den wirtschaftlichen kommt natürlich die dem Banker zugeschriebene Gier auch noch dazu. Das ist dann schon nicht mehr gedankenlos, sondern vorsätzlich. Aber durch die Grenzbetrachtung genauso verwerflich.

Die binäre 0/1-Betrachtung mag vielleicht in der EDV der zentrale Ansatz sein. Im wahren Leben gibt es jedoch keine Auswahl zwischen nur zwei Möglichkeiten. „Ja“ und „Nein“ sind wünschenswerte, weil klare Antworten auf alle sich stellenden Fragen. Allerdings lassen sich nur die wenigsten Probleme des Alltags spontan mit einer solchen Eindeutigkeit beantworten. Vielmehr handelt es sich immer um eine lange Kette von Einzelabwägungen und Kompromissen, aus denen sich Entscheidungen entwickeln. Genau hier verbirgt sich jedoch des Pudels Kern. Die Fähigkeit zum selbständigen Denken und der daraus resultierenden Erfordernis zur Übernahme von Verantwortung für die getroffene Entscheidung ist unserer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft des 21sten Jahrhunderts nahezu gänzlich abhandengekommen.

Schubladendenken ist angesagt, denn es macht das Leben leichter:

Flüchtlinge = schlecht. Deutsche = gut.
Moslems = schlecht. Christen = gut.
Reinigungskraft = schlecht. Management-Job = gut.
Politische Nachrichten = schlecht, Soap Opera = gut.
AfD = schlecht, xyz-Partei = gut. (tatsächlich fällt mir gerade keine ein, die ich hier einsetzen könnte).
Die Liste lässt sich jedenfalls beliebig lang fortsetzen.

Und wann immer man eine öffentliche Diskussion verfolgt oder die Nachrichten liest oder selbst Gespräche im Bekanntenkreis führt, werden auch immer gleich nur noch die jeweiligen extremen Endpunkte miteinander verglichen. Was habe ich nur alleine zum Thema ‚Homeoffice‘ schon Gespräche geführt. Es gibt Befürworter, die sehen darin die goldene Lösung. Montag bis Freitag zuhause. Niemals das eigene Haus verlassen müssen. Und es gibt die Gegner, die ausnahmslos nur Arbeiten an einem gemeinsamen Ort zulassen. Montag bis Freitag ab ins Büro. Wen man nicht sieht, der arbeitet nicht. Ein flexibel zu gestaltendes Mittelding steht für die meisten Menschen überhaupt nicht zur Debatte. Vollkommen unvorstellbar, dass man vielleicht Kombinationen finden könnte, mit denen man die Vorteile des ungestörten Arbeitens und der wegfallenden Reisezeiten mit den unbestreitbar wichtigen sozialen Kontakten und dem Erfahrungsaustausch kreuzen könnte. Da werden die abstrusesten Argumente, wie Arbeitsplatzkosten und mangelnde Erreichbarkeit, ins Feld geführt. Ich habe mir bei diesem Thema schon mehrere graue Haare eingehandelt.

Dieses erbitterte Aufeinandertreffen der Extreme findet bei allen Themen statt. Fleischesser versus Veganer. Da brechen eher Freundschaften auseinander, als dass die beiden Lager sich ein bisschen aufeinander zubewegen und sich auf die wissenschaftlich bewiesene Mitte einigen: zu viel Fleisch ist nachweislich ungesund. Gar kein Fleisch ist aber mindestens in der Entwicklungsphase eines Menschen gerade genauso schädlich. Ich kenne einige überzeugte Verweigerer tierischer Nahrungsmittel, die schlichtweg immer krank sind, wenn ich sie treffe. Häufig erkältet, aber auch ständig allerlei andere Zipperlein. Meine ganz unfachmännische Einschätzung lautet, dass deren Körper eine Mangelerscheinung versucht aufzuzeigen. Die der Mensch jedoch beharrlich ignoriert. Nun, ich kann mir da an die eigene Nase fassen. Lange Jahre habe ich große Mengen geraucht. Und litt unter nahezu chronischen Kopfschmerzen. Natürlich habe ich jeden Zusammenhang geleugnet, während ich mir die nächste Zigarette anzündete. Und es dauerte auch noch lange, bis ich dann nach Ablegen dieses Lasters endlich zugegeben habe, mich gar nicht mehr erinnern zu können, wann ich das letzte Mal eine Kopfschmerztablette genommen hatte.

Öffentliche Verkehrsmittel versus eigenes Auto. Mietwohnung versus Eigenheim. Beobachtet einfach mal eine x-beliebige Unterhaltung in Eurem Umfeld oder die, in die Ihr selbst involviert seid. Einen Satz im Stile von „das sehe ich zwar anders, aber du hast durchaus auch Recht“ werdet Ihr nur ganz, ganz selten zu hören bekommen. Der Standardansatz bei Auseinandersetzungen ist in unserer heutigen Gesellschaft ein reines Verteidigen der eigenen Engstirnigkeit. Der jahrzehntelang andauernde Wohlstand hat eine Menschheit voller Egoisten produziert. Rücksichtnahme wird mehr und mehr zu einem Begriff, der in absehbarer Zeit mangels Verwendung im Alltag wieder aus dem Duden gestrichen wird.

Nicht falsch verstehen, ich wettere hier nicht gegen unterschiedliche Meinungen. Weiterentwicklung in jeder Form kann nur durch Meinungsverschiedenheiten entstehen. Meinungsgleichheit führt zum Stillstand. Aber wie der Begriff „…entwicklung“ ja schon andeutet: es gehört auch eine gewisse Beweglichkeit in der eigenen Ansicht dazu. Schubladendenken und unverrückbar in Beton gegossene Meinungsbilder sind totale Entwicklungshemmnisse.

Ich möchte daher hier einen Aufruf zur Toleranz gegenüber dem Mittelweg platzieren. In der Familie, am Arbeitsplatz, im Verein, in der Politik, ganz einfach im gesamten zwischenmenschlichen Umgang müssen wir dringend von dem Beharren auf Extreme abrücken und uns auf ein ausgewogenes Mittelmaß besinnen. Nur damit ist ein Vorwärtskommen in all den aktuell immer mehr eskalierenden Auseinandersetzungen überhaupt möglich. Zum Vorwärtsbewegen gehört ein aufeinander zu bewegen. Irgendeiner muss damit nur mal den Anfang machen. Warum nicht Du und ich?

Viele Grüße

Dein Clark

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