wirsindmehr sind wir nicht. Nicht mehr.

„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“
Carl Gustav Jung, Schweizer Psychiater


Wie soll man es denn fertig bringen, sich auf etwas Konstruktives zu konzentrieren, wenn man tagtäglich von den Medien mit Horrornachrichten zugeschüttet wird? Es scheint auf dieser Welt überhaupt nichts Positives mehr zu passieren. Allerdings ist mein Eindruck eher der, dass den negativen Schlagzeilen einfach viel zu viel Raum gegeben wird. Gerade die aktuellen Geschehnisse in Chemnitz sind da ein Musterbeispiel für. Jede Zeitung berichtet darüber auf der Titelseite, jede Nachrichtensendung wird davon dominiert. Die Talkshows behandeln nichts mehr anderes und neben den phrasendreschenden Politikern gibt auch Hintz und Kuntz seinen Senf dazu. Letztendlich ja ich selbst im Zuge der Schwarmverfolgung dann jetzt mit diesem Blog-Eintrag auch noch. Aber ist das denn gerechtfertigt? Gibt man diesen bräunlichen Pappnasen mit ihrer fragwürdigen Anschauung eines ordentlichen Gesellschaftsaufbaus mit all dem Rummel nicht eine Bühne, die sie definitiv nicht verdient haben? Billiger kann Werbung doch gar nicht erfolgen. Einfacher ist es nicht, wirklich auch den allerletzten Torfpfosten aus seinem Loch zu holen. „Da schau, wir stehen für eine neue Weltordnung. Komm und demonstriere mit uns. Gemeinsam werden wir die alten Strukturen niederreißen. Hurra!“. Dazu ein bisschen Fahne schwenken und schon übertragen es hunderte Kameras in jeden Winkel der Welt. Nochmal und nochmal und nochmal. Bis selbst diejenigen, die vorher nur passiv den Ereignissen gegenüberstanden, das große Erbrechen kriegen und mitmachen.

Was bringt denn da der Konteraufruf des gegengesetzten Lagers? Schon alleine die Zahlen sprechen für sich. Je nach gewähltem Medienträger brachte die AfD und Pegida bis zu 8.000 Menschen auf die Straße. Quasi aus dem Stand heraus. Die Gegenseite schaffte es auf 3.500 Köpfe. Was lässt sich daraus am ehesten ablesen? Genau: der breiten Masse ist der ganze Rummel nach wie vor scheißegal. Nur wissen wir alle aus dem früher mal so lästig ertragenen Geschichtsunterricht, dass sich Menschen mit einer solchen Scheißegal-Haltung verhältnismäßig leicht manipulieren lassen. Und zwar von denen, die am lautesten schreien und deren Argumente auf den ersten Blick einfach und einleuchtend klingen. Also tendenziell eher nach rechts, als denn nach links oder wenigstens zur Mitte hin. In manch einem Zeitungsartikel habe ich schon verschiedene Journalisten über die Prognose von „schwarz-blau“ als einzig übrig bleibende Option bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2021 gelesen. Ganz im Stile des südlichen Nachbarlandes, welches dieses Mal vorweg marschiert. „Heim ins Reich“ mal anders herum.

Mich packt bei all dieser Betrachtung ein ziemlicher Pessimismus. Auf Facebook kommt gerade der Trend auf, das eigene Profilfoto mit dem Hashtag #wirsindmehr zu untermalen. Ich überlegte lange, als ich das zum ersten Mal sah. Und habe mich dann dagegen entschieden, diese Welle mitzureiten. Einfacher Grund: ich glaube nicht mehr daran, dass wir noch mehr sind. Gerade aktuell wurden die Zahlen der INSA-Sonntags-Umfrage veröffentlicht. Okay, man mag jetzt sagen, dass es sich hier um eine Bild-Zeitungs-basierte Umfrage handelt und diese somit alles andere als repräsentativ ist. Ich sehe das anders. Die Menschen, die ihren kompletten Wissensstand nur aus der Bildzeitung beziehen, sind genau diejenigen, die sich im Moment mobilisieren lassen und auch tatsächlich zur Wahlurne gehen. Und zwischendurch zu den Demos gegen Ausländer, gegen Flüchtlinge, gegen kulturelle Vielfalt, gegen Fortschritt. Ja, letztendlich gegen Wohlstand, aber das begreifen die meisten davon nicht.

Demgegenüber gibt es in dem Lager derer, die das bestehende System gutheißen, nur sehr wenige Vertreter, die sich dazu bewegen lassen, unsere Demokratie zu verteidigen. #wirsindmehr sind einfach viel zu wenige. Die meisten ruhen sich weiter auf dem Sofa aus und frönen ihrer Wohlstandskrankheit. „Ich zahle ja Steuern, damit andere sich um die Ordnung kümmern.“ Ein viel zu weit verbreiteter Wesenszug unserer verwöhnten Gesellschaft ist doch „das geht mich nichts an. Mir geht es gut. Alle anderen müssen schon für sich selbst sorgen.“ Maßloser Egoismus und der Irrglaube, nur Rechte zu haben, aber keine Pflichten mehr, hat sich allgegenwärtig etabliert.

In der eben erwähnten Umfrage vom 03.09.2018 wurden 2069 Menschen befragt, wie sie denn wählen würden, wenn sie jetzt ihr Kreuzchen setzen müssten. 28 % bleiben der konservativen Ausrichtung treu, die derzeit das Herz der Regierung stellt. Auf der sozial ausgerichteten Seite der politischen Landschaft muss man schon mehrere Parteien zusammen addieren, um noch einmal ein Viertel der Befragten zusammen zu bekommen. Was mir aber mehr ins Auge fiel, waren die 17 % für die AfD. 17 % von 2069 Menschen, das sind 350 Menschen, die offen und nachdrücklich zu einer rückwärtsgerichteten Willensbildung stehen. 350!

Lässt sich der Zug noch aufhalten? Ist er nicht längst abgefahren und wir müssen mit den absehbaren Resultaten jetzt halt eben leben? Ich hacke immer wieder auf dem altertümlichen Bildungssystem in unserem Land wie auch im überwiegenden Teil des restlichen Europas herum. Statt auf überholte Art und Weise den neugierigen jungen Menschen staubige Zahlen und irgendwelche Daten in den Kopf zu hämmern, sollte das Selbst-Denken gefördert werden. Wie beschaffe ich mir Informationen? Wie prüfe ich, dass die erhaltenen Informationen auch belastbar sind? Wie diskutiere ich mit anderen Menschen? Was ist eine konstruktive Auseinandersetzung? Wie funktioniert gewaltfreie Kommunikation? All diese Dinge sollten eigentlich spätestens seit dem Jahrtausendwechsel den überwiegenden Anteil der Schulfächer ausmachen. Dann würde eine Generation heranwachsen, die sich ein eigenes Bild von der Welt macht, statt denn hirnlos das nachzuplappern, was irgendwelche Populisten, verstärkt durch einseitig berichtende Medien den Massen vorbeten.

Aber da sind wir wieder beim Hätte Hätte Fahrradkette. Nach wie vor wird am Schulwesen gespart, was das Zeug hält. Den Menschen in Deutschland stehen zwar alle Wege offen, aber wirklich gefördert wird nicht, dass sie aus diesen Optionen auch schöpfen können. Die Perspektive fehlt ebenso, wie die Fantasie. Sowohl dem Nachwuchs, als auch den Eltern. Der Sohn des Arztes wird Arzt. Der Sohn des Berufskraftfahrers wird Lkw-Fahrer. Der Sohn des Langzeitarbeitslosen geht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Laufbahn der chronischen Arbeitslosigkeit. Ja, jeder „kann“ es in dem Land zu etwas bringen. Aber der Zündfunke des „warum“ wird nicht gesetzt.

Heraus kommt dann im Laufe der Jahrzehnte ein Mob, der der Meinung ist, Flüchtlinge würden Arbeitsplätze wegnehmen und die Rentenkasse leer saugen. Der neu in die Straße gezogene Syrer ist schuld, dass man beim Hausarzt erst einen Termin in sechs Wochen bekommt. Und der Afghane gegenüber ist schuld, dass die Lebensmittel auf einmal so teuer geworden sind. Überhaupt trägt das ganze dunkelhäutige Pack die Schuld daran, dass es fast nicht mehr bezahlbar ist, das Auto zu tanken. Was für ein Schwachsinn! Aber gut verpackt glaubt es irgendwann jeder.

Wobei „jeder“ nicht einmal nötig ist. Auch das haben die Geschichtsbücher gezeigt und zahlreiche Studien bestätigt. Nicht mal 40 % sind erforderlich, um die dominante Macht zu übernehmen. Wenn man ein bisschen mehr als ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung hinter eine Schwachsinns-Ideologie gescharrt hat, laufen weitere 30 % der Bevölkerung willenlos wie die Lemminge einfach hinterher. Wegschauend, wenn’s unangenehm wird. Passiv. Ignorierend. Es bleibt dann zwar immer noch ein Drittel der Bevölkerung übrig, aber da man ja dann die Macht in Händen hält, kann man hier die Rädelsführer Stück für Stück aus dem Weg räumen. Hier mal eine Gesetzesänderung, da mal ein bisschen Propaganda, der Rest erledigt sich von alleine. Alles schon mal da gewesen. Mehr als einmal. Als Paradebeispiel hier in Deutschland. Aber weitere Beispiele finden sich rund um den Globus zuhauf.

Manchmal werde ich müde. Manchmal überwiegt der Pessimismus. Manchmal bin ich wirklich gewillt, dieses Land und die dazu gehörende Demokratie einfach verloren zu geben. Dann laufe ich mit hängendem Kopf die Straßen entlang. Und mein Blick fällt auf die Stolpersteine, die trotz teilweise massivem Protest von engstirnigen Vergangenheitsverdrängern immer wieder irgendwo verlegt werden. Ich lese den Namen von Menschen, die ich nie gekannt habe. Die einmal genau hier lebten, wo ich gerade das glänzende Metall betrachte. Die hier auch nur in Frieden leben wollten. Aber aufgrund von Wegschauen der Menschen drum herum ihr Leben verloren haben. Aufgrund von zu vielen Menschen, die den Glauben an eine Besserung der Situation aufgegeben hatten.

Ich laufe weiter. Mein Heimweg nach der Arbeit führt mich manchmal über den Gernsheimer Friedhof. Ich bleibe vor dem Denkmal zu Ehren der in den Kriegen Gefallenen stehen. Noch mehr Namen von Menschen, die ich niemals kennengelernt habe. Menschen, die im Glauben an eine gute Sache ihr Leben verloren haben. Eine aus deren damaliger Sicht gute Sache, die ich heute allzu leicht als einfach nutzloses Sterben abtue. Aber ich tue den Menschen Unrecht. Ja, das Sterben war ganz bestimmt „überflüssig“, weil es das Versagen der Verhandlungspartner im Vorfeld dokumentiert. Aber es war ganz bestimmt nicht „nutzlos“. Der Nutzen liegt so offensichtlich auf der Hand, er ist so allgegenwärtig, dass wir ihn als „normal“ voraussetzen und schon gar nicht mehr darüber nachdenken. Wir leben in einem freien Land. Die Menschen können sich frei bewegen. Man kann tun und lassen, was man will, wenn man sich an gewisse sehr locker gehaltene Vorgaben hält. Es gibt Ärzte, Wohnungen, Essen im Überfluss. Sicherheit und Stabilität. Die Straßen sind nicht nur asphaltiert, sondern auch nachts beleuchtet. Schilder an jeder Ecke zeigen den Weg. Wir leben in einem Luxus, über den wir gar nicht mehr nachdenken, denn er ist eben vorhanden.

Normalität und Routine. Die gefährliche Grundlage, aus der sich Wohlstandskrankheit und Gleichgültigkeit speisen. Gerade gegen die Gleichgültigkeit gilt es vorzugehen. Aber wie? Sind Demonstrationen für oder gegen irgendetwas wirklich ein adäquates Mittel? Die Menschen gehen auf die Straße, um gehört zu werden. Um ihrer Stimme mehr Nachdruck zu geben. Es ist also durchaus angebracht und gewollt, dass über die Demonstrationen auch berichtet wird. Durch diese Berichte soll letztendlich auch eine breit gefächerte Diskussion in der Gesellschaft wie auch der Politik losgetreten werden. Nur dadurch kann sich im Laufe der Zeit eine Volksmeinung herausbilden, die wirklich die Stimmung der Mehrheit widerspiegelt und entsprechend als Marschrichtung für die Zukunftsgestaltung des ganzen Landes angesetzt wird. All das ist vollkommen richtig.

Aber mir stellt sich trotz allem jeden Tag aufs Neue beim Blick in die Nachrichten die Frage, ob denn die aktuellen Demos, Gegendemos und die dazugehörige Berichterstattung nicht ein Schuss ins eigene Knie darstellt. Unkonstruktiv einfach nur die Gemüter aufheizt und letzten Endes dafür sorgt, dass jeder nur noch schreit, aber keiner mehr zuhört. Jedes Lager glaubt sich im Recht und verlangt von allen anderen die bedingungslose Anerkennung. Und verflixt nochmal, es ist ja bei genauerer Betrachtung auch wirklich jedes Lager im Recht. Nur halt eben nicht im alleinigen! Die AfD wie auch all die verschiedenen politisch über den rechten Rand unserer Verfassung hinaus zielenden Gruppierungen haben nicht ohne Grund einen so hohen Zulauf. Man macht es sich nur mit der Pauschalverurteilung ziemlich einfach. Rechts = schlecht. Punkt. Die Rechten stampfen mit dem Fuß auf und behaupten, die einzig Guten zu sein. Schon folgt pauschal die Behauptung, die durch die Bank weg Kriminellen würden aufmucken. Absolute Polarisierung ohne einen zweiten Blick auf die Hintergründe.

Mir selbst ist rechter Extremismus ein Gräuel. Aber der linke Extremismus ebenfalls. Ich war einmal ein offener Vertreter der liberalen Gesinnung. Muss allerdings zugeben, dass mich die Marschrichtung der Gelben in den letzten Jahren deutlich vergrault hat, als dass ich denn meine persönliche Willensbildung dort repräsentiert sehen würde. Mit dem schwarzen Lager kann ich mich auch nicht wirklich anfreunden, denn schon allein der Begriff „konservativ“ bereitet mir Unbehagen. Wir leben in einer Welt des konstanten Wandels. Politisch da an teilweise nachweislich überholten Werten festzuhalten, finde ich eine sträflich falsche Einstellung. Kurzum: politisch bin ich genauso enttäuscht und frustriert und heimatlos, wie die meisten anderen Menschen in diesem Land, ja auf diesem Kontinent derzeit. Aber ist das denn ein Grund, gewalttätig zu werden? Bringt verbale oder gar körperliche Eskalation irgendjemanden weiter? Verbessert sich dadurch irgendein System?

Nein, ganz im Gegenteil. Wenn ich mir das Polizeiaufgebot und den Medienrummel rund um die immer mehr werdenden Demonstrationen so anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass hier massiv Geld verbrannt wird. Unsummen gigantischen Ausmaßes werden hier zum Fenster hinaus geworfen. Kapital, dass dann letztendlich an anderer Stelle wieder fehlt. Gerade letztens bekamen die deutschen Bürger zwar signalisiert, dass der Haushalt mit einem riesigen Überschuss abschließt. Aber bekanntlich ist es in unserer trägen Bürokratie nur sehr, sehr schleppend möglich, Gelder von einem Topf in einen anderen umzusortieren. Das System klemmt. Jeder spürt es, aber keiner kann es greifen. Jeder „Volksvertreter“ redet darüber, aber keiner packt es sichtbar an. Im Kleinen wie im Großen müssen unbefriedigende Zustände immer erst irgendwie eskalieren, bevor sich eine Lösung findet.

Tja, eine Lösung. Sicherlich wäre es sinnvoll, wenn ich solch einen Artikel mit einem Vorschlag abschließen würde, wie ich mir die Lösung der Probleme vorstelle. Nur leider habe ich keinen. Es sind zu viele Themenkomplexe, an denen gleichzeitig gearbeitet werden müsste. Themen, bei denen es zu echten Änderungen kommen müsste. Nicht wie bisher nur ein bisschen an der Oberfläche kratzen und hier und da einer maroden Innerei eine neue Hochglanzverpackung verpassen. Das Rentensystem funktioniert nicht mehr. Man braucht Vorschläge zur Veränderung. Und man sollte jedem Vorschlag die Chance geben, konstruktiv diskutiert und bewertet zu werden. Auch wenn der Vorschlag vielleicht aus einem rechten Lager kommen mag. Thema Zukunftsaussichten. Das auf Sicherheit bedachte Volk wünscht sich eine stabile Vorausschau, statt Augenwischerei. Das konstante Wiederkauen von Sprüchen wie „alles halb so wild“ ist nicht das, was sich der Wähler von seinen Volksvertretern wünscht. Thema Wirtschaft. Der Kapitalismus hat jahrzehntelanges Wachstum mit sich gebracht. Aber irgendwann ist jede Daseinsform einmal „ausgewachsen“. Darauf folgt das Altern und letztendlich das Dahinscheiden. Der Kapitalismus hat schlichtweg ausgedient. Es wird Zeit für etwas Neues. Modernisierung ist gefragt. Überall. Und man kann sie nicht nur vom Volk erwarten, man muss sie auch von oben vorleben. Denn dieses „oben“ wurde ja explizit in die Funktionen gewählt, um sich um solche Themen zu kümmern.

Nein, ich habe keine konkreten Vorschläge. Nur tausend Ideen. Vielleicht sollte ich einmal anfangen, auch diese aufzuschreiben. Think positive. Auch wenn’s manchmal schwer fällt. Probieren wir es aus.

Nachdenkliche Grüße von

Eurem Clark

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