Von alternden Löwen und ihrem Gold
„Ein Mann mit weißen Haaren ist wie ein Haus, auf dessen Dach Schnee liegt. Das heißt aber noch lange nicht, dass im Herd kein Feuer mehr brennt!“
Maurice Chevalier, französischer Schauspieler
Der Mensch denkt, Gott lenkt, so pflegte meine Großmutter immer zu sagen, wenn etwas anders verlief, als man es geplant hatte. Nun war diese ältere Dame recht überzeugt dem römisch-katholischen Glauben angehörig. Wo andere Familienfotos auf die Tapete hängten, zierte bei ihr das gerahmte Antlitz des Papstes die Wand. Meine Zweifel an der Existenz eines Gottes waren damals noch lange nicht so ausgeprägt wie heute. Dennoch ging mir durchaus gelegentlich die Frage durch den Kopf, ob denn der angeblich Allmächtige einen dermaßen schrägen Sinn für Humor haben sollte, dass er das Schicksal überproportional oft zu Ungunsten der Weiterentwicklung einer eingeleiteten Situation ausschlagen lässt. Wenn ich mal älter bin, werde ich das irgendwann verstehen, so dachte ich dann als Kind.
Nun stellt sich mir heute die Frage: wann ist man denn eigentlich älter? Und vor allem: älter aus Sicht von was? Für ein Kindergarten-Kind sind die meisten 30-jährigen schon alt. Ab dem Studentenalter sind dann die in Rente befindlichen Menschen alt. Für manch einen frischen Pensionär sind die Altersheimbewohner alt. Für mich als Teenager war die erwachsene Nachbarstochter damals auch alt. Nachdem ich selbst die Ziffer „2“zu Beginn meiner Altersangabe erreicht hatte, wurden wir ein Paar und blieben viele Jahre zusammen. Da spielten die fünf Jahre Altersunterschied plötzlich keine Rolle mehr. Zu alt? Zu jung? Gemessen woran?
Elefanten bringen es auf mindestens 60 Jahre. Die berühmten Galapagos-Schildkröten übertreffen 150 Jahre. Manche Wale schaffen 200 Jahre, manche Hai-Arten sogar 300 Jahre. Wenn das mal kein Grund ist, mehr Zeit im Wasser zu verbringen. Sag nochmal einer, ich sei zu alt zum Tauchen. Okay, ich bin es ja manchmal selbst, der diese Behauptung aufstellt, während ich die von Jahr zu Jahr schwerer werdende Ausrüstung aus meinem Wohnmobil wuchte und zum Ufer eines Baggersees schleppe. Vielleicht wird es langsam Zeit für die Anschaffung eines kleinen Wägelchens für diese Zwecke. Hat schon einer Rollatoren für Taucher erfunden? Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt bei der altabgedroschenen Phrase: man ist immer nur so alt, wie man sich gerade fühlt. Manche Dinge gehen in manch einem Alter, andere Sachen gehen eben nicht. Das gehört zum Lauf der Dinge. Das Problem ist nur, dass man sich weit mehr über etwas freut, das früher nicht ging und heute klappt, als denn umgekehrt sich damit abzufinden, dass irgendwas auf einmal nicht mehr geht, was früher mal selbstverständlich war.
All solche Gedanken zum Älterwerden macht man sich zum Geburtstag fast mehr, als zu einem kalendarischen Jahreswechsel. Mir zumindest geht es so, dass ich an Silvester bzw. Neujahr vorwiegend in die Zukunft blicke, wohingegen mich meine Geburtstage eher zu einem Rückblick auf das bisherige Leben veranlassen. „The summer of ’69“ hat Bryan Adams schon als etwas Besonderes besungen. Ein für mich bedeutender Sommer, denn da startete ich in das Dasein auf diesem Planeten. Fünf ganze Dekaden ist das nun schon her. Eine lange Zeit. Aus meiner persönlichen Sicht aber eigentlich eher eine verflixt kurze Zeit.
Der 50ste Geburtstag also. Nicht mehr zu leugnen, dass mit dem Überschreiten dieses Alters die Lebensmitte auch bereits in der Vergangenheit liegt. Männer in Deutschland werden derzeit durchschnittlich gut 79, Frauen über 84 Jahre alt. Aber diese Fakten taugen nichts für meine These der Lebensmitte, gebe ich zu. 50 steht als Symbol für ein Zenit. Und damit ganz klar auch für einen Zeitpunkt, ab dem man sich der weiteren Handlungen, die man anzugehen plant, mit einem ganz neuen Bewusstsein widmen sollte. Lebenszeit wird knapp. Welchen Herausforderungen will man sich noch stellen? Für welche Probleme ist man noch bereit, Lebenszeit zu verschwenden? In welche Beziehungen steckt man weiter Energie und wo sucht man besser die Distanz? Ist das irgendwann einmal gesetzte Lebensziel noch zu erreichen oder wird es Zeit für eine Neuausrichtung? Wenn es denn eine Frage nach dem Sinn des Seins gibt, dann wird diese Antwort darauf beim Überschreiten dieses Alters auf jeden Fall deutlich interessanter.
50 Jahre werden aber auch gemeinhin von den Menschen als besondere Zeitspanne angesehen. 50 Jahre bei einem Arbeitgeber, 50 Jahre mit einem Ehepartner, 50 Jahre Bestehen einer Stadt, einer Firma, eines Produktes… immer wieder wird der Abschluss dieses Zeitraums ganz besonders als Jubiläum gefeiert. Aber ist der 50ste Geburtstag wirklich ein Jubiläum? Kommt wohl drauf an, was man denn zu feiern gedenkt. Das Erbringen einer besonderen Leistung? Oder das Aussitzen eines gewissen Zeitraums. Eine Diskussion, die ich im Zuge meiner Vereinstätigkeit sehr oft führen durfte. Wann hat ein Mensch eine Ehrung seitens des Vereins verdient? Sobald einfach nur eine gewisse Zeitspanne seit seinem Vereinseintritt abgelaufen ist? Oder erst wenn er die in dieser zu ehrenden Zeitspanne erbrachte Leistung für den Verein erbracht hat, die durchschnittlich von einem Mitglied erbracht werden könnte? Dann steht schnell mal das 25-jährige Jubiläum erst nach 40 Jahren an. Ehren heißt ärgern, habe ich in der Zeit gelernt. Man kann es nicht richtig machen.
Aber was bedeutet das für mich selbst? Bin ich nun schon 50? Der Kalender sagt ja, denn die Erde hat seit meiner Geburt volle fünfzig Mal die Sonne umrundet. Fühle ich mich reif für ein Jubiläum? Irgendwie nein. Denn auf den Startpunkt hatte ich keinen Einfluss. Das war eher eine Leistung meiner Mutter, als denn meine eigene. Welcher Zeitpunkt wäre also als Beginn der 50-Jahres-Rechnung geeignet? Wohl am besten der Tag, an dem man mir die Verantwortung für mein Leben übertrug: das Erwachsen-Werden. Nur sind die Definitionen hierfür irgendwie auch wieder ziemlich uneinheitlich. Getauft wurde ich als Protestant. Dem Regelwerk der evangelischen Kirche folgend wurde ich im Alter von 14 Jahren konfirmiert. Im Sinne der christlichen Betrachtung der Einstieg ins vollwertige Dasein der Glaubensgemeinschaft. Erwachsen von Gottes Gnaden. Es sollte von da ab noch weit über ein Jahrzehnt vergehen, bis ich tatsächlich erwachsen genug war, mich vom Bekenntnis zu Christus und Religionen ganz im Allgemeinen zu distanzieren. Nein, mit 14 war ich noch nicht erwachsen.
Der Gesetzgeber in Deutschland setzt das Erwachsenwerden auf den 18ten Geburtstag. Aber das wirkt auf mich irgendwie willkürlich festgelegt. Mag an dem seit Jahren kontinuierlich schwindenden Vertrauen in die Kaste der Politiker liegen, dass ich nicht an eine haltbare Erklärung dieser Altersgrenze glaube. Vor allem scheint immer dann, wenn Wählerstimmen knapp zu werden drohen, auf einmal eine Herabsetzung dieses Alters ins Gespräch zu kommen. Bis 1875 galt man in den Regionen, aus denen später Deutschland entstehen sollte, mit 25 als erwachsen. Ab 1876 wurde trotz damals schon absehbarer längerer Lebenserwartung die Jungendzeit mit 21 Jahren für beendet erklärt. Nochmal hundert Jahre später, im Jahre 1975 erfolgte dann die Absenkung auf die heute gültigen 18 Jahre. Und aktuell schwappt immer mal wieder die Diskussion hoch, das Wahlberechtigungsalter auf 16 anzusenken. Die Fähigkeit, sich für ein politisches Lager zu entscheiden, verknüpft sich eng mit der Volljährigkeit.
So lässt sich also auch kein wirklicher Starpunkt festmachen. Es bleibt bei rein fiktiven Festlegungen. Das geistige Erwachsenwerden ist ohnehin eher eine rein individuelle Sache, bei jedem Menschen anders. Eigener Job, eigenes Auto, alle Türen zur weiten Welt offen, wenn auch zu naiv, um sie zu nutzen… Rund um den 20sten Geburtstag kann ich für mich persönlich sagen, dass das Leben richtig losging. Bedeutet nach der oben gestarteten Theorie, dass ich so etwa in meinem 70sten Lebensjahr das goldene Jubiläum feiern sollte. Ja, am besten gleich das ganze Jahr, denn bekanntlich leitet sich der Begriff „Jubiläum“ vom biblischen Jubeljahr ab. Rein biologisch betrachtet war ich doch auch schon neun Monate da, bevor ich da war, oder nicht?
Das Symbol für das fünfzigste Jubiläum ist Gold. Tatsächlich ein wunderschön anzusehendes, ein warmes Metall voller strahlendem Glanz. In meiner eigenen Anschauung verbinde ich mit Gold jedoch gleichzeitig auch „alt“. Man findet Gold und Goldschmuck in alten Prunkbauten, in uralten Kirchen und den staubigen Hochsicherheitslagerkellern zahlreicher Banken. Selbst die Goldfüllung im Backenzahn steht stellvertretend für vergangene Jugend, für Zerfall und Auflösung. Prachtvoller Trübsinn macht sich breit im altersschwachen Oberstübchen.
Tausendundein Gedanke, die zu solch einem Geburtstag durch den Kopf wandern. Ein Geburtstag, dessen Symbolwirkung nicht wegzudiskutieren ist, egal, wie man es dreht und wendet. Ein Geburtstag, den ich mir entsprechend groß zu feiern vorgenommen hatte. Nur komme ich an dieser Stelle wieder auf den einleitenden Satz zurück. Manchmal läuft nicht alles so ganz nach Plan. Manchmal ist das Leben so dermaßen gefüllt mit Ablenkungen, dass man diese für den normalen Wahnsinn ansieht und in Vergessenheit gerät, wie das Leben eigentlich aussehen könnte.
Nun, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Und einen Vorteil haben all die vielen Grübeleien am Ende doch: man findet noch hundert Gründe mehr zum Feiern. Lauschen wir bis dahin einfach nochmal den Worten von Bryan…
Oh, when I look back now
That summer seemed to last forever
And if I had the choice
Yeah, I’d always wanna be there
Those were the best days of my life.
Einen junggebliebenen Gruß
Euer Clark